Was tun, wenn psychisch erkrankte Menschen eine notwendige medizinische Behandlung ablehnen und sich dadurch selbst gefährden? Wie sollen sich Ärztinnen und Ärzte in einer solchen Situation verhalten? Dem Willen der Patienten folgen und zulassen, dass sie sich gesundheitlich schaden? Oder dem ärztlichen Auftrag zur Heilung bzw. Gefahrenabwehr nachkommen und die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung prüfen? Grundlage jedes ärztlichen Handels ist die "Patientenautonomie". Das heißt: Niemals darf gegen den frei bestimmten Willen eines einwilligungsfähigen Patienten gehandelt werden, auch nicht gegen den vorsorglich erklärten Willen (Patientenverfügung). Doch psychische Erkrankungen können unsere Fähigkeiten zu verstehen, entscheiden und handeln beeinträchtigen - auch in Bezug auf die eigene Gesundheit. Wie verfahren, wenn für diese Situation keine gültige Patientenverfügung vorliegt? Psychisch erkrankte Menschen sind manchmal auch nach intensiver Beratung nicht von der Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung zu überzeugen. In solchen Situationen können Zwangsmaßnahmen für die nicht einwilligungsfähigen Patienten traumatisierend und lebenslang belastend wirken. Doch sobald sie wieder zustimmungsfähig sind, bedauern manche Patienten im Rückblick ihre Ablehnung. Oft billigen sie nachträglich die Entscheidung zur Zwangsbehandlung.
Die ZEKO setzt sich in ihrer Stellungnahme dafür ein, die ärztlichen Zwangsmaßnahmen zu reduzieren. Dieses Ziel unterstützt die DGPPN nachhaltig. Einen Grund für die Zunahme von Zwangsbehandlungen sieht die ZEKO in "strukturellen Problemen" in der Krankenhausbehandlung. Sie fordert, Behandlungsalternativen zur Zwangsbehandlung zu entwickeln - ein für die DGPPN ebenfalls zentraler Punkt. Nur mit zeitintensiven Gesprächen, Vertrauen und dem Aufbau und Aufrechterhalten einer therapeutischen Beziehung lassen sich vermeidbare Zwangsbehandlungen vorbeugen. Dazu braucht der Arzt aber vor allem Zeit mit dem Patienten, oftmals sogar sehr viel Zeit. So verwundert es nicht, dass der beklagte Anstieg von Zwangsmaßnahmen in den letzten Jahren mit dem Abschmelzen von Personalressourcen in psychiatrischen Kliniken einherging. Die Personalverordnung Psychiatrie, die seit 20 Jahren eine personelle Mindestausstattung in den Kliniken vorgibt, ist heute an vielen Orten nämlich bei weitem nicht mehr erfüllt. Denn die Personalressourcen in psychiatrischen Kliniken sind als Wirtschaftlichkeitsreserve entdeckt und genutzt worden. Mit dem 2012 in Kraft getretenen Psych-Entgeltgesetz und dem derzeit entwickelten pauschalierten Entgelt-Katalog (PEPP) wird sich die Situation in Zukunft voraussichtlich noch verschärfen: PEPP sieht nämlich die Finanzierung von Vorhaltekosten nicht mehr vor, die finanzielle Absicherung der gebotenen Strukturqualität findet nicht mehr statt. Solche Vorgaben sind aus ethischen Gründen nicht vertretbar.
Hier setzt die ZEKO ein richtiges Signal: Zu Recht fordert sie eine Veränderung in der Prioritätensetzung bei der Mittelverteilung in der Medizin, um die gebotene Vermeidung von Zwangsmaßnahmen und den umfassenden Schutz der Patientenautonomie zu erreichen. Dabei stellt die ZEKO insbesondere die Belange der chronisch psychisch kranken Patienten heraus. Hier stellt sich die Frage: Wie viel lässt sich die Gesellschaft und die Medizin die Wahrung von Grund- und Menschenrechten kosten? Offenbar zu wenig.
Eine weitere, schwierige Herausforderung stellen Zwangsmaßnahmen bei psychisch erkrankten Menschen dar, die krankheitsbedingt andere schädigen, verletzen oder bedrohen. Während die Psychiatrie-Kranken-Gesetze (PsychKGs) der Bundesländer Zwangsbehandlungen bei Fremdgefährdung regeln, schließt die ZEKO solche Behandlungen gegen den Patientenwillen auch bei fehlender Einwilligungsfähigkeit aus ethischen Gründen aus. Gleichzeitig schließt die ZEKO aber nicht aus, Patienten zwangsweise in psychiatrischen Kliniken unterzubringen, um Fremdgefährdung aufgrund von psychischen Erkrankungen abzuwenden. Damit werden Kliniken mit kaum lösbaren Problemen konfrontiert: Patienten und Mitarbeitende können in Gefahr geraten, wenn die Möglichkeit einer Patientenbehandlung bei Fremdgefährdung nicht besteht. Auch hier besteht Bedarf nach einer gesellschaftlichen Diskussion und nach Bereitstellung von personellen und strukturellen Voraussetzungen, um Alternativen zur Zwangsbehandlung schaffen zu können.
"Das Verhindern von Zwangsmaßnahmen und Unterbringungen setzt eine hohe Strukturqualität voraus", unterstreicht DGPPN-Präsident Prof. Wolfgang Maier. "Im Bereich der Psychiatrie bedeutet dies vor allem hoch qualifiziertes Personal. Die personalintensive Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen wird jedoch bislang nur unzureichend vom Gesundheitssystem finanziert. Politik und Gesellschaft müssen in einen Diskurs darüber treten, was ihnen die bestmögliche Behandlung und Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen wert ist."
Literatur zum Thema:
Therapie unter Zwang? Gruppenbehandlung jugendlicher sexueller Misshandler. Beziehungsarbeit in einem juristischen Rahmen
Schmelzle, M.; Knölker, U. (Hrsg.)