"Wundts Ansatz der empirischen Psychologie folgt aus seinen Arbeiten zur Sinnesphysiologie, die ihm zeigten, dass Wahrnehmungsvorgänge bestimmte Gesetzmäßigkeiten aufweisen, die in den Begriffen der damaligen Physiologie nicht zu interpretieren waren, sondern ´psychologische´ Erklärungen nahelegten. Aus diesem Postulat ergeben sich Fragen nach der adäquaten Forschungsmethodik und nach der Definition der Psychologie. Indem Wundt das Konzept der ´schöpferischen Synthese´ definiert, leitet er seine erkenntnistheoretische und methodische Prinzipienlehre ein" (Jochen Fahrenberg in seinem Standardwerk "Wilhelm Wundt").
Das zentrale theoretische Konstrukt in Wundts Psychologie ist Apperzeption. Ursprünglich bedeutet es nur die aktive Steuerung der Aufmerksamkeit und den Übergang zunächst nur schwacher Sinneseindrücke (Perzeptionen) in die (selbst-)bewusste Wahrnehmung. Wundt formt den Begriff um in ein theoretisches Annahmegefüge mit einem empirischen Forschungsprogramm. Er postuliert eine "multimodale Konzeption, in der sensorische, kognitive, emotionale und motivationale Partialprozesse in der höchsten Synthese der psychischen Prozesse integriert werden ..." Das Konstrukt dient Jochen Fahrenberg als Beispiel für die hohe Originalität und Kontinuität in der Wissenschaft von Wilhelm Wundt.
Relativ umstritten ist das Spätwerk "Völkerpsychologie" - ein "Versuch, die naturwissenschaftlich fundierte, im Prinzip ahistorisch ausgerichtete ´Individualpsychologie´ durch eine geisteswissenschaftlich inspirierte, geschichtlich orientierte und damit generationenübergreifende Entwicklungspsychologie der ganzen Menschheit zu ergänzen." Gerd Jüttemann hält dieses Konzept für wertvoll und arbeitet (u.a. mit seinem interdisziplinären Reader "Psychologie der Geschichte") an einer Weiterführung. Er sieht in der "Völkerpsychologie" allerdings drei Fehlannahmen: Wundt hält Einzelpersönlichkeiten im Ablauf der Geschichte für fast einflusslos, unterstellt allumfassende Entwicklungsgesetze und ist einem Kulturoptimismus verpflichtet.
Wundt "war von magerem und anscheinend schwächlichem Körperbau, hatte ein stubenblasses Gesicht mit dunklem Bart und Haar und trug große, dunkle Brillengläser. Er führte ein genau geregeltes Leben, das ihm gestattete, ein hohes Alter in Gesundheit zu erreichen. Vermöge seiner Gewohnheit, tagaus tagein nach Tische einen Gang durch die Promenaden um die Altstadt zu machen, war seine etwas gebückte Gestalt unter dem breitkrämpigen schwarzen Hut etwas wie ein Wahrzeichen Leipzigs geworden, auf das die Stadt stolz sein konnte," berichtet ein Zeitzeuge in der biographischen Text- und Bild- Dokumentation, die Georg Lamberti recherchiert und zusammengestellt hat. Der Band bietet detaillierte Einblicke in eine fordernde Forscherkarriere, ein harmonisches Familienleben - und ein politisches Engagement: Als junger Wissenschaftler, noch in Heidelberg tätig, hielt Wundt u.a. für den Arbeiterbildungsverein Vorträge; die Perspektive war: sozialer Ausgleich durch Bildung, nicht durch Radikalität.
Wenige Tage vor seinem Tod schrieb Wundt im Vorwort zu seiner Autobiographie: "Sollte er selbst das Motiv in den Vordergrund stellen, das für ihn sein Leben lang das wirksamste war, so ist es nicht zu jeder Zeit, aber doch auf den Höhepunkten dieses Lebens das politische, die Teilnahme an den Interessen von Staat und Gesellschaft gewesen, die den Schreiber dieser Zeilen gefesselt hat."
Jochen Fahrenberg: Wilhelm Wundt. Gesamtwerk
Einführung, Zitate, Kommentare, Rezeption, Rekonstruktionsversuche.
Pabst, 2018. Hardcover ISBN 978-3-95853-435-3. eBook ISBN 978-3-95853-436-0
Gerd Jüttemann (Ed.): Psychologie der Geschichte
Pabst, 2020. Hardcover ISBN 978-3-95853-624-1. eBook ISBN 978-3-95853-625-8
Georg Lamberti: Wilhelm Maximilian Wundt
Life, work, personality in pictures and texts.
Pabst, 2020. Paperback ISBN 978-3-95853-622-7. eBook ISBN 978-3-95853-623-4