Bescheidenheit ist nicht so einfach, wie es die Stoiker erklärten oder die religiösen Propheten des Verzichts heute predigen. Nietzsche und Freud entdeckten hinter ihren Fassaden egoistische Possenspiele. Otte stellt die Frage nach der Bescheidenheit vor dem Hintergrund ihrer Analysen neu. Bescheidenheit ist in unserer Gesellschaft möglich und keinesfalls die Domäne von Spießern und grauen Mitläufern. Für den Autor hat sie nichts mit modischen Trends wie "Geiz ist geil" oder kurzlebigen Massenbewegungen zu schaffen. Sie ist eine anspruchsvolle Geisteshaltung mit einer spannenden Tradition. Der Autor geht so weit, zu behaupten, dass ohne einen Moment der Bescheidenheit eine tiefere Selbsterkenntnis auf der Strecke bleibt. Bescheidenheit lebt vom kritischen Blick auf sich und andere.
Dem Bescheidenen ist das, was er hat oder haben könnte, nicht genug. Manchmal stört ihn dieses Haben- und Konsumieren-Müssen geradezu, weil es ablenkt von Erfahrungen, in denen sein Leben seine eigene Kontur und Atmosphäre gewinnt. Es geht ihm um das Weniger, das mehr ist. Bescheidenheit ist für Otte keine verkniffene und verschlafene Pflicht, sondern eine lustvolle Kür für Menschen, die Worte wie Glück und Freundlichkeit nicht aus ihrem Wortschatz gestrichen haben. Die selbstsüchtigen Entgleisungen von Politik- und Wirtschaftsgrößen empören auch deshalb, weil sie gegen implizite Normen der Bescheidenheit verstoßen, die wir unbewusst - nicht nur von ihnen - einfordern.
Unsere globalisierte Wirtschaftswelt produziert Überfluss und Hunger. Die Grenzen des Wachstums haben wir überschritten. Die Philosophie der Bescheidenheit, die Otte entwickelt, stellt sich politischen und sozialen Herausforderungen der Zeiten, die längst angebrochen sind. Ohne eine aktuelle und konsensfähige Form der Bescheidenheit scheint keine solidarische Weltgesellschaft möglich zu sein.