Erst seit rund zehn Jahren wird dieser Zustand von der psychologischen Forschung beschrieben. Auslöser war die deutsche Wiedervereinigung. «In den Jahren nach der Wende sind viele Menschen katastrophal gescheitert», sagt die Ärztin Barbara Lieberei vom Berliner Reha-Zentrum Seehof. In der Folge sah man in den psychiatrischen Kliniken immer mehr verbitterte Patienten, die lange krankgeschrieben waren und eine Rente beanspruchten. Helfen lassen wollten sie sich jedoch nicht, denn sie sahen sich als Opfer. «Die Verbitterung ist ein komplexer Zustand», sagt Lieberei, «es ist eine Mischung aus Aggressivität und Resignation, aus Rachegefühl und Selbstzerstörung.»
Das Berliner Forschungsteam um den Psychiater Michael Linden, in dem auch Barbara Lieberei arbeitet, prägte darauf den Begriff der posttraumatischen Verbitterungsstörung. Damit ist nicht einfach eine negative oder zynische Lebenseinstellung gemeint, sondern ein Zustand, den man auch als Kränkungsdepression beschreiben könnte. Die Betroffenen sind über Monate in ihrem täglichen Leben beeinträchtigt, meiden Orte, die sie an das negative Erlebnis erinnern, sind gereizt, bedrückt und werden immer wieder von Erinnerungen eingeholt.
Die Verbitterungsstörung ist verwandt mit der posttraumatischen Belastungsstörung. Die beiden Krankheitsbilder unterscheiden sich insofern voneinander, als die Belastungsstörung durch lebensbedrohende Ereignisse wie Kriegserlebnisse hervorgerufen wird und die Patienten vor allem unter Angst leiden. Die Verbitterungsstörung hingegen wird meistens durch eine Kränkung ausgelöst, die den Betroffenen tief verletzt: wenn zum Beispiel einer Frau gekündigt wird, die ihr ganzes Leben der Firma geopfert hat.
Nach mehreren Befragungen von Patienten in Arztpraxen und Kliniken sowie von Pendlern in Zügen schätzt Linden heute, dass etwa 2 bis 4 Prozent der Bevölkerung an einer solchen Störung leiden. Momentan wird kontrovers diskutiert, ob die Verbitterungsstörung eine eigene Krankheit ist und in den WHO-Katalog der Krankheiten aufgenommen werden soll.
Anstieg durch Wirtschaftskrise
Nach Angaben von Ärzten häufen sich Kränkungsdepressionen nach gesellschaftlichen Umwälzungen. In der Zürcher Privatklinik Hohenegg beispielsweise spüre man zurzeit die Wirtschaftskrise. «Wir haben immer mehr Patienten bei uns, die ihre Kündigung als ungerecht empfinden und nicht darüber hinwegkommen», sagt Toni Brühlmann, der ärztliche Direktor. Auch Barbara Lieberei beobachtete, dass verschiedenste Ereignisse wie zum Beispiel Hochwasser, bei denen Menschen unverschuldet ihr Hab und Gut verlieren, zu einem Anstieg von Verbitterungsstörungen führen.
Die Betroffenen sehen sich als Opfer und erkennen nicht, dass sie sich selber helfen können. Das macht die Therapie so schwierig. «Diese Patienten sind nicht selten bissig und zynisch, sie verhalten sich auch den Therapeuten gegenüber oft verletzend», sagt Lieberei. «Für solche Fälle gab es vor zehn Jahren wenig therapeutische Ansätze.» Die Berliner Forschungsgruppe entwickelte darum ein Konzept, das sie Weisheitstherapie nennt, eine abgewandelte Form der Verhaltenstherapie. Im modernen Forschungszweig der Weisheitspsychologie wird Weisheit als psychische Fähigkeit verstanden, die einer Person hilft, schwierige Lebenssituationen zu meistern. Für die Weisheitstherapie hat Lindens Team zehn unterschiedliche Kompetenzen beschrieben: Empathie und Toleranz zum Beispiel helfen, das Handeln anderer zu verstehen und nicht persönlich zu nehmen. Mit Humor schafft man emotionale Distanz und hat dadurch mehr Handlungsspielraum. Auch die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, das Aushalten von Unsicherheit oder die Erkenntnis, dass sich die Welt nicht immer um die eigene Person drehen muss, gelten als Weisheitskompetenzen. Solche Fähigkeiten tragen dazu bei, dass ein negatives Erlebnis besser verarbeitet werden kann. Verbitterungspatienten hatten in Untersuchungen signifikant weniger solcher Weisheitskompetenzen als die Kontrollgruppen.
Den Blickwinkel wechseln
«Die Weisheitstherapie ist darauf ausgerichtet, diese Fähigkeiten gezielt zu trainieren», erklärt Barbara Lieberei. Dies geschieht unter anderem bei Rollenspielen, in denen fiktive Lebenssituationen diskutiert werden. Die Patienten müssen sich zum Beispiel in die Rolle einer Ehefrau, einer Grossmutter oder eines Arbeitgebers versetzen und aus der jeweiligen Sicht über schwierige Situationen wie Scheidungen oder Kündigungen diskutieren. «Das Ziel ist, dass man emotionale Distanz zum Erlebten entwickelt und erkennt, dass es auch andere Blickwinkel gibt», erklärt Lieberei.
In einer Studie zeigten die Forscher, dass nach einem solchen Training Lebensfragen «weiser» beurteilt werden («Posttraumatic Embitterment Disorder», Hogrefe, 2007). Doch Rollenspiele allein reichen nicht aus, um ein emotionales Trauma zu verarbeiten, oft ist eine längere Therapie nötig. In der Schweiz geschieht dies meist in einer emotionalen Traumatherapie, bei der Elemente der Weisheitstherapie angewandt werden, wie Klinikleiter Brühlmann sagt.
Literatur:
Weisheitskompetenzen und Weisheitstherapie
Die Bewältigung von Lebensbelastungen und Anpassungsstörungen