Die Erkenntnisse der Studie eröffnen neue Perspektiven für soziale Interventionen nach Konflikten mit gegenseitiger Gewalt. Erste Ergebnisse erschienen jetzt im renommierten "European Journal of Social Psychology".
Zwischen 1989 und 2003 fanden in Liberia zwei Bürgerkriege statt. Menschen verschiedener Volksgruppen bekämpften sich erbittert. Ergebnis: über 250.000 Tote, über eine Million Vertriebene, Gräueltaten auf allen Seiten. "Diese Gegenseitigkeit der Gewalt ist für unsere Studie ausschlaggebend", sagt Mazziotta. Hintergrund: "Sie führt dazu, dass keine klaren Täter- und Opferzuschreibungen möglich sind. Trotzdem tendieren die am Konflikt beteiligten Parteien dazu, auf das eigene Leid zu fokussieren." Das Leid anderer Gruppen blendeten sie häufig aus.
Ein Grundproblem bei Versöhnungen nach Konflikten mit Gewalttaten durch alle Beteiligten ist daher: das Gefühl, nur Opfer und nicht gleichzeitig Täter zu sein. Dieses Gefühl können beide Seiten empfinden. Unabhängig davon, wer tatsächlich Opfer und wer Täter ist. "Dadurch ist es leichter, eigenes destruktives Verhalten mit dem Verweis auf die Gewalttaten anderer zu rechtfertigen", erklärt Agostino Mazziotta.
In einem Feldexperiment in Liberia ist der Forschungsgruppe um Mazziotta und Feuchte nun ein wichtiger Nachweis gelungen: Es ist prinzipiell möglich, zu beeinflussen, ob in Situationen mit gegenseitiger Gewalt der Gruppe, der man selbst angehört, eher eine Opferrolle oder eine Täterrolle zugeschrieben wird. Agostino Mazziotta und Friederike Feuchte sprechen von "psychologischer Rollenkonstruktion". Diese hat großen Einfluss auf die Versöhnungsbereitschaft. Personen mit einem "Opfer-Fokus" fragen: "Wer hat mir oder meiner Gruppe Gewalt angetan?" Personen mit "Täter-Fokus": "Wem tat meine Gruppe Gewalt an?"
Ein einflussreiches Versöhnungsmodell der israelischen Forschenden Arie Nadler und Nurit Shnabel sowie darauf aufbauende Forschungsbefunde legen nahe, dass Personen, die sich als Opfer fühlen, ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Kontrolle und Macht haben. Denn sie waren zuvor nicht in der Lage die Situation zu kontrollieren oder nicht mächtig genug, sich vor Gewalt zu schützen. Personen, die sich als Täter fühlen, haben dagegen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Dieses Bedürfnis resultiert aus der Bedrohung ihres Selbstbildes, ein moralischer Mensch zu sein. Das Forschungs-Team nahm an, dieses Bedürfnis könne ein Motor für den Versöhnungsprozess sein. Weitere Annahme: Ein "aktiviertes Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz" kann mit Empathie einhergehen. Also einer größeren Bereitschaft, auf andere zuzugehen und deren Erfahrungen zu verstehen.
146 Personen aus 16 ethnischen Gruppen nahmen an der Untersuchung teil. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip einer von zwei experimentellen Bedingungen zugeteilt. Personen in der "Täter-Fokus-Bedingung" wurden gebeten, eine Situation zu schildern, in der Menschen der eigenen Volksgruppe während des Krieges Gewalt ausübten. Personen in der "Opfer-Fokus-Bedingung" sollten beschreiben, wie Menschen ihrer Volksgruppe Gewalt erlitten.
Im Vergleich zu Personen mit einem "Opfer-Fokus" hatten Personen mit "Täter-Fokus" ein stärkeres Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz - so wie die Forschungsgruppe das postuliert hatte. Dieses Bedürfnis führte zu gruppenübergreifender Empathie, also einem größeren Verständnis für die Perspektive der ehemaligen Gegner. Und ebenso zu einer größeren Bereitschaft, mit Personen dieser Gruppe wieder in wohlwollenden Kontakt zu treten.
"Es war für die Personen leichter, eine Episode zu beschreiben, in der ihrer Gruppe Leid zugefügt wurde", sagt Mazziotta. Die Forschenden schlossen das aus dem Detailreichtum der Schilderungen. Auch waren Befragte mit "Opfer-Fokus" in den geschilderten Situationen wesentlich häufiger selbst anwesend - statt nur Erzählungen Dritter wiederzugeben.
Die Beschreibungen der Situationen in der "Täter-Fokus-Bedingung" waren dagegen abstrakter und weniger detailliert. "Die Opferrolle ist offenbar leicht zugänglich. Mit ihr lassen sich die eigenen Gewalttaten leichter bewältigen", meint Mazziotta. "Obwohl das Erinnern eigener Gewalttaten unangenehm ist, kann dies dennoch das Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz auslösen."
"Die Versöhnungsbereitschaft kann durch Verständnis für die Situation des anderen gesteigert werden." Vielversprechend sei eine "Erweiterung der Opfer-Perspektive", erklärt Mazziotta. Damit meint er die Bewusstmachung, dass Gewalt von allen Seiten verübt wurde: "Empathie als Voraussetzung für Akzeptanz und Vergebung" sei ein Ansatz, der sich aus den Ergebnissen der Studie ableiten lasse und der bereits in Nachfolgeprojekten untersucht werde.
Die Feldstudie stand unter der Leitung von Dr. Agostino Mazziotta und Dr. Friederike Feuchte. Beteiligt waren Forscherinnen und Forscher der Universitäten Ostfold (Norwegen) und Tel Aviv. In Liberia halfen Nichtregierungsorganisationen bei der Koordinierung der Studie.
Angaben zur Publikation:
Does remembering past ingroup harmdoing promote postwar cross-group contact? Insights from a field-experiment in Liberia. Agostino Mazziotta, Friederike Feuchte, Nicolay Gausel, Arie Nadler.
European Journal of Social Psychology, Eur. J. Soc. Psychol. 44, 43-52 (2014).
Literatur zum Thema:
Psychology Science 4-2007