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Suchttherapie für Strafgefangene dient den Abhängigkeitskranken und der öffentlichen Sicherheit

Gesundheit und Haft Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit Lehmann, Marc; Behrens, Marcus; Drees, Heike (Hrsg.)

Die Suchtexperten Prof. Dr. Heino Stöver und Prof. Dr. Daniel Deimel fordern in einer gemeinsamen Stellungnahme die Entkriminalisierung von Drogenkonsumierenden, eine bessere Suchttherapie im Strafvollzug und eine strikte Regulierung der Cannabis-Abgabe

Eine grundlegende Reform der Drogenpolitik in Deutschland fordern die Suchtforscher Prof. Dr. Heino Stöver und Prof. Dr. Daniel Deimel. „Die Entkriminalisierung der Konsumierenden aller Drogen ist ein längst überfälliger erster Schritt“, sagen die Suchtexperten. Dringend geboten sei zudem eine Neuregulierung des Drogenmarktes sowie eine Fokussierung auf wirksame suchttherapeutische und sozialtherapeutische Maßnahmen im Justizvollzug, um eine Rehabilitation und Resozialisierung von drogenkonsumierenden Strafgefangenen zu ermöglichen.

Stöver, Leiter des Instituts für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS), und Deimel, Professor für Klinische Sozialarbeit am Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho), nennen als weitere wichtige Schritte zur Anpassung der in ihren Augen bislang eher reformresistenten Drogenpolitik in Deutschland: die Akzeptanz von Drogensucht als Krankheit, eine einheitliche drogenpolitische Linie der Bundesländer, den Zugang drogenabhängiger Gefangener zu Substitution, eine deutliche Aufstockung der finanziellen Mittel durch Umverteilung für Prävention, Beratung und Therapie statt Repression und – im Spannungsfeld von Kontroll- und Hilfestrategien – den Abschied vom Abstinenzdogma.
Im Hinblick auf die von der Ampelkoalition angekündigte Legalisierung von Cannabis legen die Wissenschaftler nicht nur flankierende Vorschläge vor, sondern plädieren zugleich dafür, die Regulierungsdebatte auszudehnen auf weitere Substanzen wie MDMA (bekannt u.a. als Partydroge Ecstasy).

Abkehr vom Abstinenzdogma im Strafvollzug
Die Kriminalisierung – also Strafverfolgung, gerichtliche Befassung, Verurteilung und Inhaftierung – betrifft viele Konsumentinnen und Konsumenten illegaler psychoaktiver Substanzen im Laufe ihrer Konsumphase. Von den – oft abhängig – Konsumierenden von Opioiden (vor allem Heroin), die polizeilich auffällig geworden sind, haben 80 Prozent nach Daten des Robert Koch-Instituts (2016) Hafterfahrungen, d.h. im Durchschnitt zahlreiche Haftaufenthalte über mehrere Jahre.
„Auch wenn nur etwa 15 Prozent aller Gefangenen aufgrund von Delikten im Zusammenhang mit dem Betäubungsmittelgesetz in Haft sind, ist davon auszugehen, dass etwa doppelt so viele Gefangene opioiderfahren oder -abhängig sind“, so Stöver. Für diese Menschen bringt die Haft gesundheitliche und soziale Probleme mit sich, weil Gefangene nur zu einem geringen Teil von den Fortschritten in der Suchtmedizin profitieren. Nur etwa 23 Prozent aller in Frage kommenden opioidabhängigen Gefangenen erhalten eine Substitutionsbehandlung – im Gegensatz zu ca. 50 Prozent in Freiheit – und in vielen Fällen nicht das Medikament ihrer Wahl.
„Die verbreitete Praxis eines Abbruchs der in Freiheit begonnenen Substitutionsbehandlungen erscheint umso weniger nachvollziehbar, als diese nach medizinischer Indikation begonnen wurden und die Substitutionsbehandlung in Gefängnissen in den Richtlinien der Bundesärztekammer ausdrücklich vorgesehen ist“, sagt Deimel.

Der Strafvollzug stehe unter dem Druck der Öffentlichkeit, das Gefängnis als „drogenfreien Raum“ zu gestalten. „Diese Fixierung auf Abstinenzorientierung in der Behandlung von Drogenabhängigkeit führt dazu, dass ein erheblicher Teil von drogenabhängigen Gefangenen von adäquaten Drogenhilfemaßnahmen nicht erreicht wird“, so Deimel. „Dies steht in Gegensatz zu den Entwicklungen außerhalb des Vollzugs in den letzten 30 Jahren, in denen sich differenzierte, auf Schadensminimierung (Harm Reduction) und Suchtbegleitung abzielende Versorgungs-, Beratungs- und Behandlungsangebote für Drogenabhängige entwickelt haben. Ihnen zugrunde liegt die Definition von Drogenabhängigkeit als Krankheit, d. h. eines nicht oder nicht in jeder Lebensphase zu steuernden und folglich nicht zu beendenden Drogenkonsumverhaltens der Suchtkranken.“
Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe bedeutet für Drogenabhängige nicht nur soziale Exklusion und ein Leben in relativer Einkommensarmut, sondern darüber hinaus auch den Ausschluss von suchtmedizinischen Angeboten.

Repression gegen Drogenkonsumierende
Ergänzend zu besseren Hilfsangeboten für drogenabhängige Strafgefangene fordern Stöver und Deimel eine Entkriminalisierung bestimmter Drogendelikte und eine Abkehr von der Repression gegen Drogenkonsumierende.
Obwohl mit dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) vor allem der Handel und Schmuggel verfolgt und bestraft werden sollten, lag der Anteil der sogenannten konsumnahen Delikte nie unterhalb von 60 Prozent. 2020 erreichte er gar den neuen historischen Höchstwert von 79 Prozent. Die Zahl der Tatverdächtigen wegen Verstoßes gegen das BtMG lag 2020 bei 284.723 Personen, ca. 30 Prozent davon waren Jugendliche und Heranwachsende. Zum Stichtag 31.03.2019 befanden sich insgesamt 6.796 Personen, d.h. 13,4 Prozent aller Gefangenen wegen eines BtMG-Verstoßes in Einrichtungen des Freiheitsentzugs (50.589 Strafgefangene und Sicherheitsverwahrte insgesamt).
Bei drogenbezogenen Delikten handelt es sich im Wesentlichen um Kurzstrafen, zum erheblichen Teil auch um Ersatzfreiheitsstrafen, weil die Betroffenen die Geldstrafe nicht zahlen können. „Durch die Kürze der Strafen bergen die Übergänge von der Freiheit in die Haft und von der Haft in die Freiheit zurück erhebliche gesundheitliche und soziale Risiken. Der Strafvollzug – das zeigen diese Daten – wird zu einer Durchgangsstation, zu einem wichtigen Teil der Biographie für die meisten Drogenkonsumenten, der massiven Drehtüreffekten unterliegt“, warnen die Suchtforscher.

„Drogenverbot und Abstinenzdogma bewirken eine Tabuisierung sowie eine Moralisierung drogenkonsumbedingter gesundheitlicher Störungen“, so Stöver. „Konsumierende, insbesondere die vulnerable Gruppe der Jugendlichen, sind gezwungen, ihren Drogengebrauch zu leugnen und zu verheimlichen. Bei drogenbezogenen Problemen wie Überdosierungen, Abhängigkeit, Psychosen, HBV/HCV- und HIV-Infektionen, Selbst- oder Fremdverletzungen im Rausch nehmen sie in vielen Fällen keine Hilfe in Anspruch.“ Im Gegensatz zu Themen wie Sexualität oder Gewalt gibt es beim Thema Drogen keinen Erfahrungsaustausch, keine Informationsvermittlung und keine Begleitung durch Eltern, Lehrkräfte oder auch Peers.
„Dieser Problemkomplex könnte durch einen regulierenden statt ausgrenzenden rechtlichen Umgang mit Drogen bzw. Drogenkonsumierenden aufgelöst werden“, lautet die Empfehlung der Suchtexperten. „Steckte man die Mittel aus der Repression in die Prävention, Beratung und Therapie, wäre deren Finanzierung in ganz neuen Größenordnungen möglich“, so Deimel. Er verweist auf die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), die eine massive Erhöhung der Ausgaben von derzeit ca. 30 Millionen Euro auf eine Milliarde Euro pro Jahr fordert, was einem Viertel der Ausgaben für die Repression im Bereich illegaler Drogen entspreche.

Zur Legalisierung von Cannabis
Mit der Legalisierung von Cannabis wird ein regulierter Markt für Erwachsene geschaffen. Durch Übertragung der niederländischen Verhältnisse auf Deutschland ergäben sich hierzulande schätzungsweise 2.000 Verkaufsstellen. Erwartbare Effekte wären der Zusammenbruch des Schwarzmarktes für Cannabis, der zu erhöhten Steuereinnahmen anstelle von Milliardengewinnen für die organisierte Kriminalität führt, sowie ein Wegfall der Repressionskosten im Bereich Cannabis und Einsparungen durch weniger Schäden aufgrund von qualitativ schlechten Produkten und falschem Umgang.

Wesentliche Maßnahmen zur Regulierung:
• Verkauf ausschließlich in Fachgeschäften (z.B. als Teil von Drogerien und Apotheken) mit Fachpersonal, die Informationsangebote bereithalten und mit der Drogenhilfe vernetzt sind
• Lizenzierung, d.h. Beschränkung auf eine Verkaufsstelle pro natürliche Person mit Sicherstellung des Jugendschutzes sowie ausschließlich persönlicher Verkauf in einer festen Betriebsstätte; kein Internet- oder Straßenhandel oder Automatenverkauf wegen fehlender Beratung. Mittelfristig Etablierung einer bestimmten Ausbildung als Voraussetzung, um ein solches Fachgeschäft zu führen bzw. darin als Fachpersonal zu arbeiten.
• detaillierte Informationen über das Cannabis-Produkt in jeder Verkaufseinheit
• Qualitätskontrolle der Cannabisprodukte zum Ausschluss gesundheitsschädlicher Rückstände wie Herbiziden und Pestiziden
• Altersgrenze von 18 Jahren für den Kauf (analog zu Tabak und sogenanntem harten Alkohol), keine Registrierung

Die Suchtexperten würden noch einen Schritt weiter gehen: „Auch andere Substanzen müssen reguliert und damit dem Schwarzmarkt entrissen werden, beispielsweise MDMA, das nach Cannabis und Amphetamin die drittmeist genutzte illegale Droge unter den 15- bis 34-Jährigen in Deutschland ist“, so Stöver. Seit Ende der 1980er Jahre findet die Droge in erster Linie Verbreitung in (Techno-) Partykontexten. Ecstasy kann auf dem Schwarzmarkt in sehr hohen Wirkstoffkonzentrationen angeboten werden, aber auch gefährliche Beimengungen beinhalten. Gerade in den letzten Jahren ist der durchschnittliche Wirkstoffgehalt deutlich gestiegen. Schwankungen sind erheblich, bis hin zu Tabletten mit deutlich mehr als 300 mg MDMA (bei 60 bis 120 mg als üblicher Einzeldosis). Bei einer vernünftigen Regulierung könnten die Risiken des Konsums deutlich verringert werden. Deimels Vorschlag: „Der Verkauf von MDMA kann in staatlichen oder zumindest lizensierten und kontrollierten Geschäften in der Nähe von relevanten Clubs bzw. Partybezirken erfolgen. Die Anzahl der Geschäfte sollte stark begrenzt sein.“

Fazit der Wissenschaftler: „Notwendig ist ein neuer gesundheitspolitischer Ansatz mit dem Ziel der Regulierung illegaler Substanzen und eines Abbaus repressiver Strukturen zugunsten gesundheitlicher Unterstützungen und Hilfen. Dringend erforderlich ist zudem eine wissenschaftliche Fundierung der Drogenpolitik, begleitet von einem Beirat, einer Enquetekommission oder einer neu besetzten Drogen- und Suchtkommission der neuen Bundesregierung.“ ¹

Zu den Personen:
Prof. Dr. Heino Stöver ist Diplom-Sozialwissenschaftler und Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS. Er leitet seit 20 Jahren das Institut für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF). Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist die sozialwissenschaftliche Suchtforschung. Stövers Forschungsschwerpunkte sind von großer gesellschaftlicher Bedeutung, da die Zielgruppen seiner Forschung gesundheitlich und teils sozial stark belastet sind und oft zu spät behandelt werden; die späte Behandlung verursacht hohe Kosten und kann zum Tod führen. Am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS leitet er den Master-Studiengang Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe.

Prof. Dr. Daniel Deimel ist Diplom-Sozialarbeiter, Suchttherapeut und Gesundheitswissenschaftler. Er ist Professor für Klinische Sozialarbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) am Standort Aachen sowie am Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP). Er ist zudem Gastwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen und dem LVR Klinikum Essen, Abteilung für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten. Deimels Forschungsschwerpunkte liegen in der sozialwissenschaftlichen Suchtforschung, der HIV-/Aids-Forschung sowie der Evidenzbasierten Sozialarbeit.

Zum Institut für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF):
Das Institut für Suchtforschung an der Frankfurt UAS arbeitet seit 1997 an der Weiterentwicklung zielgruppenspezifischer und lebensweltnaher Prävention, Beratung und Behandlung von Suchterkrankungen. Es erforscht Sucht in ihren verschiedenen Erscheinungsformen sowie die mit Sucht in Zusammenhang stehenden Probleme und Aspekte. Das Institut fördert den Ausbau von interdisziplinären Beziehungen zu Kooperationspartnern auf nationaler und internationaler Ebene. Forschungsprozesse und -resultate finden in Studium und Lehre Berücksichtigung.
Informationen zum ISFF unter https://www.frankfurt-university.de/isff

Zum Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP):
Das Deutsche Institut für Sucht- und Präventionsforschung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen bietet seit 1999 praxisorientierte, angewandte Wissenschaft mit den Schwerpunkten sozialwissenschaftlicher und psychologischer Suchtforschung, insbesondere zur Entstehung, Prävention und Behandlung verschiedener Suchtformen. Ausgewiesene Kompetenzfelder des DISuP sind Suchtforschung, Präventionsforschung und Fachkräfte-Qualifizierungen.
Informationen zum DISuP unter: https://katho-nrw.de/disup


Quelle:  https://idw-online.de/de/news786923

 

Literatur:

Gesundheit und Haft
Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit
Lehmann, Marc; Behrens, Marcus; Drees, Heike (Hrsg.)

 




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