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Sterbehilfe in deutschen Kliniken: mehr als gesetzlich erlaubt

20.04.2021 Über die Möglichkeiten der Sterbehilfe und die damit verbundenen Gesetze wird in Deutschland seit Jahren kontrovers diskutiert. Unklar bleibt dabei, in welchem Umfang und durch wen verschiedene Formen der Sterbehilfe in Deutschland bereits praktiziert werden. Professor em. Dr. med. Karl H. Beine ist dieser Frage im klinischen Umfeld nachgegangen. Dafür hat er rund 5000 Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen und Pfleger zu allen von ihnen praktizierten Formen der Sterbehilfe befragt und mögliche Einflussfaktoren untersucht. Seine Ergebnisse hat er in der „DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift“ publiziert. Für seine Originalarbeit „Praxis der Sterbehilfe durch Ärzte und Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern“ hat der ehemalige Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke jetzt den diesjährigen „DMW Walter Siegenthaler Preis“ erhalten.

An der Befragung, die Professor Beine zwischen September und Dezember 2018 mittels eines Online-Fragebogens durchführte, nahmen insgesamt 2683 Pflegerinnen und Pfleger sowie 2507 Ärztinnen und Ärzte teil. Sie gaben anonym darüber Auskunft, ob und in welcher Form sie in den vergangenen 24 Monaten Sterbehilfe geleistet hatten. Dabei wurde sehr genau zwischen passiver Sterbehilfe, indirekter Sterbehilfe, assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe unterschieden.

 

„Insgesamt gaben beide Berufsgruppen zusammen 38 926 Fälle von indirekter beziehungsweise passiver Sterbehilfe in den vergangenen zwei Jahren an. In knapp 58 Prozent der Fälle waren Ärztinnen und Ärzte sowie in etwa 42 Prozent Pflegende verantwortlich“, erklärt der Mediziner. Diese Art der Sterbehilfe macht in der Befragung mehr als 90 Prozent der berichteten Fälle aus. „Der Anteil durchgeführter aktiver Sterbehilfe war im gleichen Zeitraum mit 680 Fällen deutlich geringer“, so Beine weiter. Gleichzeitig betont er, dass sich aus den Ergebnissen trotz der relativ großen Stichprobe keine generalisierbaren Aussagen zur Praxis der Sterbehilfe in deutschen Kliniken ableiten ließen.

 

Nach ihrer Einstellung zur aktiven Sterbehilfe befragt, äußerte das Pflegepersonal mehr Zustimmung als die Mediziner: Über die Hälfte der Pflegenden erklärte, dass sie in mindestens einem konkreten Fall der Auffassung gewesen seien, dass aktive Sterbehilfe sinnvoll gewesen wäre, um jemanden von seinem Leid zu erlösen. Unter den Ärztinnen und Ärzten war nur ein Viertel dieser Meinung. „Eine generelle Straffreiheit von aktiver Sterbehilfe wurde von den meisten Befragten abgelehnt, am stärksten durch Ärztinnen und Ärzte“, berichtet Professor Beine.

 

Ein weiteres Ergebnis der Befragung: Der Zusammenhang zwischen der Anwendung der verschiedenen Formen der Sterbehilfe und ihren jeweiligen rechtlichen Konsequenzen ist gering. So wurde der straffreie assistierte Suizid seltener angegeben als die verbotene aktive Sterbehilfe. „Das wirft die Frage auf, welchen Einfluss vorhandene und zukünftige Gesetze auf die individuelle Entscheidung von ärztlichen und pflegerischen Mitarbeitenden in Krankenhäusern nehmen können“, gibt der Mediziner zu bedenken. Den Studienergebnissen zufolge hatten andere Faktoren weitaus mehr Einfluss auf das individuelle Handeln. Dazu gehörten die Anwendung palliativmedizinischer Kenntnisse, die eigene Beobachtung, das von Kolleginnen und Kollegen aktive Sterbehilfe geleistet wurde, sowie die eigene Haltung gegenüber aktiver Sterbehilfe.

 

Professor Beine fordert daher am Ende seines Beitrags, palliativmedizinische Weiterbildungen für alle medizinischen Berufsgruppen mit häufigem Kontakt zu Sterbenden auszubauen. Sie liefere Behandelnden alternative Handlungsoptionen, um auf die Durchführung aktiver Sterbehilfe zu verzichten. Des Weiteren müsse ein offener Austausch unter all jenen gefördert werden, die Schwerstkranke betreuen. „Nur so kann im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende eine humane Sterbebegleitung verwirklicht werden“, ist Professor Beine überzeugt.

 

„Professor Beine liefert mit seiner Arbeit wichtige empirische Befunde zur Haltung des medizinischen Personals zur Sterbehilfe sowie deren Anwendung im klinischen Umfeld. Er zeigt dabei auf, was in der Diskussion um rechtliche Aspekte der Sterbehilfe oft untergeht: Nämlich, wie wichtig die palliativmedizinische Weiterbildung derer ist, die sich um schwerstkranke Patientinnen und Patienten kümmern“, so Professor Dr. med. Martin Middeke, Vorsitzender der Jury und Schriftleiter der Fachzeitschrift „DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift“.

 

Wie wird Sterbehilfe definiert?

„Passive Sterbehilfe“ bezeichnet das Zurückhalten oder den Entzug einer lebenserhaltenden oder –verlängernden Behandlung (zum Beispiel künstliche Beatmung, Ernährung oder (weitere) Gabe eines Medikaments) nach entsprechender Einwilligung des/der Patienten/-in, dessen/deren erfolgter Tod nicht gewollt ist, sondern eine unbeabsichtigte oder in Kauf genommene Folge darstellt.

„Indirekte Sterbehilfe“ bezeichnet die Gabe eines Medikaments (zum Beispiel Opioide, Benzodiazepine, Barbiturate) zur Schmerzlinderung nach entsprechender Einwilligung des/der Patienten/-in, dessen/deren erfolgter Tod nicht gewollt ist, sondern eine unbeabsichtigte oder in Kauf genommene Folge darstellt.

„Assistierter Suizid“ (häufig wird „ärztlich“ vorangestellt) bezeichnet die Aushändigung eines Medikaments an eine/n Patienten/-in zur selbstständigen Beendigung seines/ihres Lebens.

„Aktive Sterbehilfe“ bezeichnet aktive Handlungen (Behandlungen, Interventionen etc.), die eine aktive Beendigung des Lebens eines/-r Patienten/-in beabsichtigen beziehungsweise zum Ziel haben.
Zudem wird hier unterschieden zwischen:
a) „Tötung auf Verlangen“ nach diesbezüglicher expliziter Willensäußerung des/der Patienten/-in. Diese Art wird häufig juristisch synonym zur „aktiven Sterbehilfe“ verwendet.
b) „Tötung ohne explizite Willensäußerung“ wird üblicherweise nicht der aktiven Sterbehilfe zugeordnet, ist in einigen Fällen jedoch schwer abgrenzbar.

 

Quelle:

Karl H. Beine:
Praxis der Sterbehilfe durch Ärzte und Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern
DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2020; 145 (22); e123–e129

Die Originalarbeit ist Open Access veröffentlicht und frei zugänglich abrufbar unter:
Thieme E-Journals - DMW - Deutsche Medizinische Wochenschrift / Abstract (thieme-connect.com)

 

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