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"Schokolade schmeckt, wenn sie verboten ist, noch viel besser" - oder: Wenn gesundes Essen zum Zwang wird

Der Zigarette entsagen, fettarme und vitaminreiche Kost zu sich nehmen und auf genügend Bewegung achten - was kann man besseres tun für Körper und Gewissen? Dass auch der Wunsch nach gesundem Essen Gefahren in sich bergen kann, darauf weisen unabhängig von einander Ulrich Vorderholzer und Eva Maria Endres in ihren Beiträgen zum aktuellen Reader "Gesundheitszwänge" hin.

Vorderholzer beleuchtet den Begriff "Orthorexie", der sich aus den griechischen Wörtern "orthos" (richtig, korrekt) und "orexis" (Appetit) herleitet. Was rein begrifflich zunächst auf eine ausgewogene, gut bemessene Ernährung hinzuweisen scheint, definierte der US-amerikanische Arzt Steven Bratman als eine Fixierung auf gesundes Essverhalten. "Problematisch dabei ist der zunehmend zwanghafte Charakter des Essverhaltens", kommentiert Vorderholzer. "Orthorexie beginnt meist schleichend, mit der Zeit nimmt Nahrung einen immer größer werdenden Stellenwert im Leben der Betroffenen ein. Die selbst auferlegten Essensregeln werden immer strenger... Schon geringe Abweichungen von den festgelegten Regeln können Anspannung, Angst, Schuldgefühle oder Selbsthass auslösen." Worauf die Regeln beruhen, ist dabei individuell unterschiedlich, "so streichen manche Orthoretiker beispielsweise Fleisch und/oder Milchprodukte von ihrem Ernährungsplan, meiden Lebensmittel mit künstlichen Zusatzstoffen, kaufen nur noch Bio-Ware oder orientieren sich an spirituellen Ansätzen wie Ayurveda".

Orthorexie ist bislang wenig erforscht; noch fehlt es an einer genauen Definition und einer präzisen Abgrenzung von anderen Krankheitsbildern. Fest steht jedoch, dass die Therapie der Betroffenen sich schwierig gestaltet: "Zentrales Merkmal der Orthorexie stellt die starre Überzeugung von der Richtigkeit des Ernährungsverhaltens dar. Der Leidensdruck entsteht meist durch eingeschränkte Leistungs- und Alltagsfähigkeit sowie soziale Probleme. Aus diesem Grund stehen die Betroffenen der Therapie sehr ambivalent gegenüber und sind nur schwer zu einer Veränderung ihres Essverhaltens sowie ihrer Überzeugung zu bewegen."

Eva Maria Endres geht unter anderem der Frage nach, wo - gesellschaftlich gesehen -Selbstzwänge bei der Nahrungsaufnahme ihren Ursprung haben. Zwar war aus religiösen Gründen bereits im Mittelalter das Fasten weit verbreitet; jedoch vollzogen sich erst mit Beginn der Moderne bis in die Gegenwart wirkende "zahlreiche Änderungen, die den individuellen und gesellschaftlichen Zwang betreffen." Mit Einführung von Anstands- und Sittlichkeitsvorschriften entstanden auch Mäßigungs- und Diätregeln, denen sich die Menschen unterwarfen und durch die sie Selbstzwängen Vorschub leisteten. Während der gemeinsam eingenommen Mahlzeiten "fungierten Tischsitten, Zubereitungsarten oder die Auswahl der Lebensmittel als Mittel der sozialen Distinktion" - Abweichungen von diesen Sittlichkeitsvorschriften werden seither mit Missbilligung geahndet.

Mit der aufkommenden Industrialisierung wurde auch eine öffentliche Gesundheitspflege eingeführt: "Industrialisierung und Wirtschaftswachstum forderten einen funktionierenden und damit gesunden Menschen. Gesundheit wird damit zu einem zentralen Aspekt irdischen Glücks, denn nur wer gesund ist, kann arbeiten und am Fortschritt teilhaben."

Im Fokus von Gesundheit und guter Ernährung waren spätestens seit diesem Zeitpunkt nicht mehr individuelle Bedürfnisse der Menschen: "Das Wohlbefinden des Einzelnen rückte zusehends ins Abseits, während der Nutzen für die Gesellschaft im Vordergrund stand." Von dieser Sichtweise zum Kalorien-Zählen, Body-Maß-Index und schlagwortartigen Ernährungstipps ist es nur noch ein kleiner Schritt.

Dabei hatte alles so gut angefangen. Mit dem Begriff "Diät" wurde in der Antike eine umfassende Lebensweise bezeichnet und deckte neben Speisen und Getränken auch die Bereiche Leibesübungen, Schlaf und sexuelle Beziehungen ab, und zwar abgestimmt etwa auf Jahreszeit, Lebensalter und persönliche Bedürfnisse des Individuums. "Für Hippokrates stand das Wohl- und Unwohlsein des Menschen im Mittelpunkt", formuliert Endres, und kontrastiert dabei den antiken Ansatz mit den Ernährungsregeln der Moderne, wie sie etwa in der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) formuliert werden.

Erst das Slow Food Konzept knüpft an die Lehren des Hippokrates an und rückt, so Endres, "die soziale Bedeutung des Essens, den Genuss, traditionelle Esskulturen oder Aspekte von Ökologie und Nachhaltigkeit" wieder ins Zentrum. "Slow Food fördert damit ein ganzheitliches Verständnis von Lebensmitteln, geknüpft an Wertschätzung, Ernährungssouveränität und Genuss" - das stellt ein wirksames Gegenbild dar zu allzu rigiden Gesundheitsvorstellungen,  wie sie etwa Orthoretiker haben, und gibt vor allem dem schlechte Gewissen bei vermeintlich "falschen" Lebensmitteln kaum noch eine Chance. Folglich hat auch eine Trotzreaktion auf übersteigertes Regelwerk keine Grundlage mehr. "Schokolade schmeckt, wenn sie verboten ist, noch viel besser", dieser Satz macht bei Slow Food kaum noch Sinn, doch gewiss schmeckt sie auch dann noch gut, wenn sie wieder erlaubt ist.

Beide Beiträge finden sich in dem Reader "Gesundheitszwänge", herausgegeben von Hans-Wolfgang Hoefert & Christoph Klotter. In 21 Beiträgen werden verschiedene Spielarten übertriebenen, teilweise zwanghaften Gesundheitsverhaltens untersucht. Themen dabei sind Übergewicht und vermeintlich gesundes Essen, Blutdruck, Body Mass Index, Stillen, künstliche Schönheit, Nahrungsmittelergänzung, Wellness und Sportsucht. M.W.

Gesundheitszwänge
Hoefert, Hans-Wolfgang; Klotter, Christoph (Hrsg.)




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