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Psychologie von Geschwistern: Letztgeborene sind keine Draufgänger

Es gibt Annahmen und Theorien, die so verbreitet sind, dass sie für wahr gehalten werden. So auch diese, dass Letztgeborene risikobereiter sind als ihre älteren Geschwister. Ein Forscherteam vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, der Universität der Balearen, der Universität Basel und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung konnte nun anhand von drei großen Datenanalysen zeigen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Geburtenreihenfolge und der individuellen Risikobereitschaft gibt. Die Ergebnisse wurden im Journal PNAS veröffentlicht.

Charles Darwin, Alexander von Humboldt und Rosa Luxemburg waren die jüngsten Kinder in ihren Familien und hatten Charaktereigenschaften, die man den Letztgeborenen oft zuschreibt: Sie waren abenteuerlustig, rebellisch und unerschrocken. Die These, dass die Geburtsreihenfolge die Persönlichkeit beeinflusst, wurde lange und kontrovers in der Psychologie und darüber hinaus diskutiert. In den 1990er Jahren wurde die These besonders prominent in den Arbeiten des Wissenschaftshistorikers und Darwin-Experten Frank Sulloway vertreten. Bei seiner Suche nach den Gründen, warum Menschen politische oder wissenschaftliche Revolutionäre werden, entdeckte er, dass es unter diesen statistisch gesehen mehr Letztgeborene gibt. Er entwickelte ein Modell der Familiendynamik, nach dem sich die Erstgeborenen der privilegierten Aufmerksamkeit der Eltern sicher sein konnten, wohingegen die jüngeren Geschwister sich erst eine „familiäre Nische“ erkämpfen und dafür Risiken eingehen müssten, was ihre Persönlichkeit präge.

Inzwischen wird Sulloways Familiendynamikmodell kritischer gesehen und jüngste Studien können keinen Zusammenhang zwischen Geburtsreihenfolge und Persönlichkeit im Allgemeinen nachweisen. Doch gilt dies auch für die Risikobereitschaft? Sind Letztgeborene waghalsiger als ihre älteren Geschwister? Dieser Frage ging ein Forscherteam vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, der Universität der Balearen, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und der Universität Basel in drei unterschiedlichen Analysen nach.

  In der ersten Analyse untersuchten die Forscher Daten aus einer der umfangreichsten wissenschaftlichen Wiederholungsbefragungen in Deutschland, dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). Das SOEP befragt jedes Jahr etwa 30.000 Menschen zu verschiedensten Themen, so zum Beispiel auch zur selbsteingeschätzten Risikobereitschaft beim Autofahren oder in finanziellen Dingen. Mit Blick auf die Risikobereitschaft verglichen die Forscher die Antworten von Erstgeborenen mit denen von Nachgeborenen und Letztgeborenen. In 96 Prozent der Vergleiche war dabei keinerlei Zusammenhang festzustellen.

Darüber hinaus werteten die Forscher die Daten der so genannten „Basel-Berlin Risk Study“ mit Blick auf die Geschwisterfrage neu aus. In dieser Studie wurde die individuelle Risikobereitschaft von 1.507 Erwachsenen in experimentellen Verhaltenstests im Labor und in Selbsteinschätzungen untersucht. Doch auch in diesen Daten fanden die Forscher keinen Zusammenhang zwischen der Geburtenreihenfolge und der Risikobereitschaft einer Person.

In der dritten Analyse recherchierten die Forscher zudem die Geburtsreihenfolge von fast 200 historischen Entdecker*innen und Revolutionär*innen. „Wir wollten ausschließen, dass sich die Risikobereitschaft von Letztgeborenen in Umfragen und Verhaltenstests nicht zeigt, aber durchaus im echten Leben. Deshalb haben wir auch in den Geschichtsbüchern geschaut, ob die Entscheidung, ein risikoreiches Leben zu führen von der Geburtsreihenfolge abhängt. Jedoch fanden wir auch hier keine statistischen Auffälligkeiten“, sagt Tomás Lejarraga, Erstautor der Studie und Assoziierter Wissenschaftler im Forschungsbereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sowie Associate Professor an der Universität der Balearen auf Mallorca.

„Die These, dass die Dynamik in der Familie, die wiederum durch die Geburtsreihenfolge geprägt sein könnte, die Risikobereitschaft beeinflusst, scheint durchaus intuitiv und plausibel. Aber wir konnten weder in Umfragen, noch in experimentellen Versuchen, noch in den Stichproben historischer Persönlichkeiten, die enorme Risiken eingegangen sind, Hinweise für diese These finden“, sagt Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Mitautor der Studie.

Auch die Erstgeborenen Martin Luther, Christoph Kolumbus und die britische Abenteurerin Mary Kingsley zeigen, dass es wohl andere Faktoren als die Geburtsreihenfolge geben muss, die dazu führen, dass Menschen sich für ein risikoreiches Leben entscheiden.

Literatur

Wildermuth: Zur Realität und Bedeutung von Geschwisterbeziehungen innerhalb einer mittel- bis langfristigen kinder- und jugendpsychiatrischen stationären Behandlung

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