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Psychiatrie: Historische und potentiell aktuelle Voraussetzungen für Patiententötungen

Geschichtliche Erfahrungen - insbesondere Verbrechen im Nationalsozialismus - haben für heutige Entscheidungen im Gesundheitswesen eine große Bedeutung. Dies belegen Dr. Ekkehardt Kumbier und Kollegen in ihrem Aufsatzband "Ethik und Erinnerung - Zur Verantwortung der Psychiatrie in Vergangenheit und Gegenwart." Professor Dr. Hanfried Helmchen empfiehlt die Neuerscheinung zur sorgfältigen Lektüre.

"Die im ersten Teil des Buches berichtete und analysierte Vorgeschichte der nationalsozialistischen Patiententötungen macht bedrückend klar, wie stark das Handeln der psychiatrisch Tätigen vom Zeitgeist abhängig war. Dass dieses Wissen gegenwärtige Einstellungen und Entscheidungen in der Versorgung psychisch Kranker beeinflusst, wird in einigen Beiträgen des zweiten Teiles, die auf das Leben und Lebensende von Demenzkranken fokussiert sind, eindrucksvoll deutlich, bleibt hingegen in anderen Beiträgen eher im Hintergrund.

Ausgehend von der - auch sprachlichen - Relativierung menschlichen Lebens durch seine Bewertung nach Kriterien des Wertes bzw. Nutzens für den individuellen Menschen wie für die Gesellschaft in der Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" (1920) des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche zeigt der Medizinhistoriker Volker Roelcke klar auf, dass bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zunächst Schriftsteller und Philosophen, ab der Jahrhundertwende zunehmend auch Juristen, Ärzte und Naturwissenschaftler unter dem Eindruck der Darwin’schen Evolutionslehre mit Ideen eine öffentliche Diskussion in Gang setzten, die die Tötung unheilbarer Kranker enttabuisierte. Die somit lange und gesellschaftlich verankerte Vorgeschichte dieser Schrift wie ebenso ihre folgende Rezeptionsgeschichte, die über Radikalisierung durch Nationalsozialismus und Krieg zur Ermordung psychisch Kranker führte, ergibt "deutliche Argumente gegen drei zentrale Begründungen für die aktive Euthanasie heute, nämlich

  1. gegen die Behauptung, dass die nationalsozialistischen Krankentötungen nur das Resultat einer vom NS-Regime den Ärzten aufgezwungenen Ideologie sei,
  2. gegen die Behauptung, dass das heutige Insistieren auf der Autonomie der Betroffenen ein zentrales Differenzierungskriterium gegenüber allen historischen Debatten sei, und
  3. gegen die Behauptung, dass Kriterien für die Zuschreibung von vermindertem Lebenswert gegen Veränderungen durch sich wandelnde politische und ökonomische Kontexte abgesichert werden können."

Die im Nationalsozialismus tödlichen Konsequenzen dieses gesellschaftlichen Mentalitätswandels werden durch drei Beiträge anschaulich gemacht. Die Realität der Erfassung und Verschickung von psychisch Kranken aus den psychiatrischen Krankenhäusern Mecklenburgs in Rostock-Gelsheim und Schwerin-Sachsenberg in die Tötungsanstalten, meist Bernburg, wird in den Beiträgen von Lange, Haack und Kumbier konkretisiert und kasuistisch individualisiert. Die wichtigsten Selektionskriterien waren neben der Diagnose (am häufigsten Schizophrenie und Schwachsinn), langer Krankenhausaufenthalt (durchschnittlich etwa 10 Jahre), fehlende Arbeitsfähigkeit und störende Verhaltensauffälligkeiten.

Aufgrund von Erfahrungen mit der wissenschaftlichen Bearbeitung zweier Krankengeschichtsbestände von Opfern nationalsozialistischer Patiententötungen weist der Medizinhistoriker Thomas Beddies auf methodische Begrenzungen und "Verführungen" einer patientenorientierten Geschichtsschreibung mittels quantitativer Auswertung und Rekonstruktion von Fallgeschichten hin. Mit "kritischer Sensibilität" für den "Entstehungsprozess dieser durch Empathie und Interesse sich auszeichnenden Patientenbiografien" fragt er quellenkritisch nach Repräsentativität und Kriterien der Auswahl der "oft vielfach gebrochenen" Informationen, entindividualisierenden oder auch vielleicht verschleiernden Befundbeschreibungen, die in den psychiatrischen Krankengeschichten dokumentiert wurden und ebenso dessen, was davon (und auch wie es) später analysiert wurde. Den größten Wert dieser Krankengeschichten sieht Beddies in der "Vielzahl individueller Erinnerungen" als einer Quelle von Kulturgeschichte.

Auf der Folie solcher geschichtlicher Erfahrungen sind die anschließenden Beiträge zu aktuellen, um die Demenz zentrierten Themen zu lesen.

Das zitierte Ergebnis der historischen Analyse Roelcke’s lässt den Psychiater Hans Lauter schlussfolgern, dass trotz grundsätzlicher Unterschiede zwischen der kollektivistischen Staatsauffassung des Nationalsozialismus und der aktuellen Betonung der individuellen Autonomie in unserer demokratischen Gesellschaft "beiden Diskursen eine Relativierung des menschlichen Lebenswerts und ein Wegfall des grundsätzlichen ärztlichen Tötungsverbotes zugrunde" liegen. "Für beide Praktiken ist die Ausweitung der Euthanasie auf immer weitere Personengruppen kennzeichnend. Und beide haben die Tendenz, dass das Fremdmitleid, das zunächst auf Erlösung anderer Menschen von einem unerträglichen Leiden gerichtet ist, in ein Selbstmitleid umschlägt, welches die Folgen fremden Leidens für das eigene Wohlbefinden oder das Glück der Gesellschaft aus der Welt zu schaffen sucht."

Vor diesem Hintergrund entfaltet Lauter differenziert und umsichtig die Komplexität der ethischen Fragen, vor denen heute Psychiater am Beispiel der Demenz stehen, wenn sie Entscheidungen zur Unterlassung oder Beendigung lebenserhaltender medizinischer Interventionen, zur Suizidprävention, zum ärztlichen Suizidbeistand und zur Tötung auf Verlangen zu treffen haben. "Bei allen diesen Entscheidungen ist der Achtung vor der Selbstbestimmung des Erkrankten große Bedeutung beizumessen. Dieses Prinzip darf aber nicht die alleinige Handlungsmaxime bei der ärztlichen und pflegerischen Betreuung von Demenzkranken sein. Es bedarf der Ergänzung durch eine Ethik der mitmenschlichen Fürsorge." Da letzterer in der aktuellen Änderung des Betreuungsrechts ("Patientenverfügungsgesetz" vom 18.6.2009) nicht genügend Beachtung eingeräumt wird, reflektiert Lauter dieses Gesetz kritisch. Sich dem Lebensende nähernde Schwerkranke sind "in besonderm Maße auf eine Einstellung der gesellschaftlichen Solidarität angewiesen, die eine veränderte Sichtweise auf das Leben unter extremen Bedingungen eröffnet und von den Möglichkeiten der palliativen Medizin Gebrauch macht, ohne einer Ideologie der einschränkungslosen Verfügbarkeit über menschliches Leben anheimzufallen oder sich durch Phantasien einer unbegrenzten medizintechnologischen Machbarkeit verführen zu lassen."

Diese "gesellschaftlich fixierten Verständnisweisen und Normen, denen demenzkranke Menschen unterworfen werden", werden auch von dem Theologen Hans Ulrich aus biblischchristlichem Blickwinkel kritisch gesehen, indem er "das Verständnis der conditio humana als Geschöpflichkeit" als Orientierungsperspektive "für die Praxis des Zusammenlebens mit demenzkranken Menschen" erörtert und die Wahrnehmung des Demenzkranken über seine kognitive Leistungsfähigkeit hinaus auf dessen gelebte Erfahrungen erweitert und damit Menschen für Neues öffnet.

Der Jurist Christoph Sowada beschreibt die in Deutschland aktuellen rechtlichen Grundlagen und Wirkungen der von Lauter behandelten verschiedenen Modi der "Sterbehilfe" und vergleicht sie mit der holländischen Rechtswirklichkeit. Er kommt zu ähnlichen Schlüssen, dass nämlich "das niederländische Rechtssystem kein geeignetes Vorbild für das deutsche Recht darstellt und der deutsche Gesetzgeber an der Strafbarkeit der aktiven Sterbehilfe festhalten sollte", weil 1. das Lebensschutzkonzept des niederländischen Modells mindestens zwei Schwachstellen aufweist (nur nachträgliche Kontrolle aktiver Sterbehilfe, Wahl des konsultierten Arztes durch den Sterbehelfer selbst); und 2. "gerade in Anbetracht der vielfältigen Abwägungen in diesem Bereich ... die Begrenzung der Autonomie dahingehend, dass niemand die Macht hat, einem anderen die Tötung zu gestatten, als eine stabile Ordnungsgröße beizubehalten (ist). Dies gilt auch im Hinblick auf die (vorerst abstrakten", aber von Roelcke historisch belegten) "Gefahren, die sich aus strukturellen Faktoren wie steigende Gesundheitskosten und die demographische Entwicklung in Bezug auf eine Verschärfung der Verteilungskämpfe im Gesundheitswesen ergeben können."

 

Ethik und Erinnerung
Zur Verantwortung der Psychiatrie in Vergangenheit und Gegenwart
Kumbier, E.; Teipel, S.J.; Herpertz, S.C. (Hrsg.)




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