Wie halten Liebende die Balance zwischen Verschmelzungs-Sehnsucht und Autonomiewunsch? Zwischen Leidenschaft und Ruhebedürfnis? C. Juliane Vieregge, Lehrerin, Germanistin, Theologin, plädiert in ihrem brillianten, literarisch opulenten Essay "Die Perle in der Auster" verführerisch für die Leidenschaft.
Dennoch folgt die psychologisch reflektierte Empfehlung: Normale Langzeitpaare sollten ihre individuellen Freiräume suchen, um sich zu vergewissern, dass sie auch zum Alleinsein fähig bleiben. "Tun wir dies nicht, droht langfristig die Individualität eines oder beider Partner verloren zu gehen. In Ansätzen kennt das wahrscheinlich jeder: Schon nach einem gemeinsamen Urlaub stellt sich das dringende Bedürfnis ein, endlich wieder ganz für sich alleine zu sein ..."
Apodiktisch das Postulat: "Die Liebesbeziehung darf nicht zum Sinn des Lebens werden."
Juliane Vieregge beschwört die "Gefahr, nur noch durch die Bestätigung des Partners ein Gefühl für sich selbst zu bekommen. Wer sich ausschließlich in Beziehung zum Anderen erlebt, kann sich eine eigenständige Existenz gar nicht mehr vorstellen." Die Situation engt ein, schnürt die Luft ab. Wahrscheinlich wird sich ein Partner "aus der Umklammerung befreien - sei es durch sexuelle Lustlosigkeit, sei es durch einen Seitensprung, durch ständige Nachtarbeit oder eine Art innere Emigration ..."
"Je mehr ein Paar zusammenwächst, desto mehr wird die Abgrenzung des Einzelnen zur Herausforderung; denn Vertrautheit und Harmonie werden zunehmen. Dagegen werden die Momente sexueller Verschmelzung seltener. Doch eine einzige aufwühlende Nacht einmal im Quartal ist mehr wert als dreimal die Woche zwei-Minuten-Sex. Sie wird kommen, wenn sie dran ist. Sie wird das Leben aufregend machen - für einen kostbaren Augenblick ..."
Die Perle in der Auster
Ein Plädoyer für mehr Leidenschaft
Vieregge, C. Juliane
