Andererseits hatte das Ertrinken von mehreren Hundert Flüchtlingen im Mai 2016 eine deutlich geringere Medienberichterstattung und kaum mitfühlende Reaktionen von Politikern und Bevölkerung zur Folge. Für dieses gesellschaftlich beunruhigende Phänomen wurde vom amerikanischen Psychologen Paul Slovic der Begriff "compassion fade" (oder "Zusammenbruch des Mitgefühls") geprägt: Während wir bereit sind, für ein identifizierbares Opfer zu handeln, sind wir in großen Krisen oft passiv und ignorant gegenüber dem Schicksal von Hunderten, Tausenden oder sogar Millionen von Menschen.
Das Lübecker Team um den Neurologen Thomas Münte und die Psychologen Zheng Ye und Marcus Heldmann stellte nun gemeinsam mit Slovic die Frage, ob dieses Phänomen neurobiologisch begründet ist. Sie konfrontierten Proband/inn/en mit gesprochenen Botschaften, die im Stil von Radionachrichten gehalten waren, und untersuchten die Hirnaktivität mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie. Die Nachrichten betrafen entweder einzelne Personen oder Gruppen von Personen.
Als Hauptergebnis zeigte sich, dass das Empathienetzwerk des Gehirns stärker aktiviert wurde, wenn ein Ereignis eine einzelne Person und nicht eine Gruppe von Menschen betraf. Insbesondere der Teil des Stirnhirns, der in Metaanalysen als verantwortlich für die Einnahme verschiedener Perspektiven gefunden wurde, zeigte größere und ausgedehntere Aktivierungen bei Ereignissen, die sich auf eine Person bezogen.
Die Autoren schließen, dass die fehlende Resonanz des Stirnhirns auf Ereignisse mit vielen Personen die neuronale Ursache für unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden einer bei humanitären Katastrophen ist.