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Klimawandel: Wie wir Schuld auf uns laden und tatkräftig verdrängen

Die wissenschaftliche Evidenz für die Klimaerwärmung ist erdrückend. Dennoch löst die sich abzeichnende globale Krise keinen kollektiven Alarm bei uns aus, kein angemessenes Handeln. Wie ist dieses Phänomen aus psychodynamischer Sicht zu erklären? Unter anderem mit dieser Frage beschäftigt sich der Deutsche Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Aus Sicht der Experten spielen die Abwehr unerträglicher Gefühle von Schuld und Scham gegenüber unseren Kindern, die Traumatisierung als Täter und damit verbundene Entlastungsstrategien wie kognitive Verzerrung, Projektion und Dissoziation eine entscheidende Rolle.

Alpengletscher schmelzen, Hitzewellen nehmen zu, der Meeresspiegel steigt – in den Nachrichten tauchen immer häufiger Bilder auf, die uns die Auswirkungen der globalen Klimaerwärmung vor Augen führen. Durch den massiven CO-2-Ausstoß drohen Tier- und Pflanzensterben, Ernteausfälle, Hungertod und Massenflucht in unbekanntem Ausmaß. Dennoch ergreifen Regierende und Regierte bisher keine ausreichenden Maßnahmen, um die Klimakrise abzuwenden. „Mechanismen wie Profitmaximierung und fehlende technische Lösungen allein erklären diese Nach-uns-die-Sintflut-Haltung nicht“, betont Professor Dr. med. Volker Köllner, Präsident des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, der vom 16. bis 18. Juni virtuell stattfindet. „Denn vielen Menschen steht es frei, auf individueller Ebene klimafreundliche Entscheidungen zu treffen“, so Köllner.

Unerträgliches aus dem Bewusstsein verbannen

Was also hindert uns am Handeln? Unter psychodynamischen Gesichtspunkten betrachtet, ruft die Klimakrise tiefgreifende Gefühle von Angst, Schuld, Verzweiflung und Scham hervor. „Schuldgefühle aufgrund der eigenen Beteiligung an dem Desaster, Scham über die leidvollen Konsequenzen für unsere Kinder, Verzweiflung darüber, dass sich die Produkte des Hyperkonsums nicht leichtgängig umkehren lassen“, erklärt Professor Dr. med. Christoph Nikendei, Leiter der Sektion Psychotraumatologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Diese Gefühle seien jedoch unerträglich und müssten daher aus dem Bewusstsein verbannt werden. „Dabei helfen uns Abwehrmechanismen wie Verleugnung und Dissoziation“, so Nikendei.

„Doppelte Buchführung“ schönt Flugreisen

Verleugnung muss nicht Abstreiten des Klimawandels bedeuten; sie kann durchaus „reifere“ Formen annehmen. „Auch umwelt- und naturbezogen eingestellte Menschen fahren mit dem Auto in die Stadt, weil es für sie bequemer ist, oder kaufen ein neues Smart-Phone, obwohl sich das alte reparieren ließe“, schildert Nikendei. Bei der Dissoziation wiederum spalten Menschen eigene zerstörerische Impulse aus ihrem Bewusstsein ab und gehen zur „doppelten Buchführung“ über. „Dissoziation ermöglicht uns, unseren Fleischkonsum zu reduzieren, aber wie andere 66,2 Millionen deutsche Bundesbürger im Sommerflugplan 2018 einen internationalen Flug in Anspruch zu nehmen“, führt Nikendei aus.

Wahrnehmungsverzerrung und Selbsttäuschung

Projektion ist ein weiterer Abwehrmechanismus „Wir unterstellen in diesem Fall Anderen ein umwelt-destruktives Verhalten, um uns selbst zu entlasten –  wir klagen zum Beispiel die junge Generation an, ‚scheinheilig‘ zu sein, da sie immer neue Konsumprodukte haben und reisen wolle und zeitgleich als Friday-For-Future-Generation auf die Straße geht“, meint Nikendei. Hinzu kommen kognitive Verzerrungen, sogenannte „Bias“. „Der Single-Action-Bias etwa begegnet uns beim Einkaufen im Supermarkt, wenn wir uns durch den Kauf einzelner Biowaren selbst darüber hinwegtäuschen, dass wir eine Vielzahl nicht nachhaltiger Produkte erworben haben“, erläutert Nikendei.

All diese Mechanismen dienen dem Ziel, uns von dem Trauma der Täterschaft zu entlasten, wie der Heidelberger Psychotherapeut betont: „Wir nehmen lieber die Bedrohung unserer physischen Existenz hin als die vollumfassende Wahrnehmung der eigenen Mittäterschaft an dem globalen Desaster.“ Nach Ansicht der US-amerikanischen Psychotherapeutin Donna Orange weist die Klimakrise im Hinblick auf das „kollektive Wegschauen“ und die Billigung der drohenden Auslöschung ganzer Völker Parallelen zur Zeit des Nationalsozialismus auf.

Gesundheitsberufe sollen Klimakommunikation anstoßen

Wie können wir aus diesem Zustand herausfinden, aus dieser Haltung der Verdrängung, die angesichts der Tragweite des Problems zu mehrheitlich unangemessener Sorglosigkeit führt? Aus psychotherapeutischer Sicht gibt es dafür einen Lösungsansatz. „Wir brauchen eine Klimakommunikation, die schwierige Gefühle wie Verzweiflung, Scham, Schuld und Trauer anspricht“, betont Nikendei. Erst die Möglichkeit, diese Affekte offen ausdrücken zu können, löse Individuen aus emotionalen Schutzmechanismen und ermögliche Handeln. Den Angehörigen der Gesundheitsberufe komme dabei eine zentrale Rolle zu, so Nikendei.

Praxen werden sich mit Angst-Patienten füllen

Sie könnten mit ihrer Expertise zum Gelingen der Kommunikation beitragen und auch Menschen mit psychischen Ängsten im Rahmen der Klimakrise begleiten. Denn eines scheint gewiss: „Der Klimawandel wird immer mehr in den therapeutischen Raum eintreten – geopolitische Spannungen und die schockierende Wirklichkeit von Flucht und schlimmstenfalls Krieg wird Angst, Ambivalenz und enttäuschte Hoffnungen produzieren und Menschen mit psychischen und psychosomatischen Störungen in die Praxen führen“, ist Nikendei sicher.

Pressemitteilung  der Charité

Literatur zum Thema


In: Umweltpsychologie 2/20,




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