Professor Dr. Bernd Schünemann, Ordinarius für Strafrecht an der Universität München, sieht derartige Schieflagen in der deutschen Justiz annähernd regelhaft: "Mit gewaltigen Konsequenzen ist die Stellung der Polizei im Ermittlungsverfahren in mehrfacher und sich wechselseitig potenzierender Weise so radikal verstärkt worden, dass die Kontrolle durch die Justiz weitgehend paralysiert und diejenige durch die Verteidigung praktisch beseitigt worden ist."
Polizei und Staatsanwaltschaft schaffen per Ermittlungsakten und Anklageschrift die "kognitive Basis" für das Gericht. "Und genau darin liegt der Keim der rechtsstaatlichen Katastrophe; denn in den letzten Jahrzehnten hat die rechtspsychologische Forschung eine Alltagserfahrung bestätigt": Dank primärer Kenntnis der belastenden Anklageakten überschätzt das Gericht die Anklage-konformen und unterschätzt die entlastenden Informationen und Argumente. Schünemann sieht darin generell eine "ernsthafte Gefahr für die materielle Wahrheitsfindung als Ziel des Strafverfahrens."
"Dass ein Mensch - der Strafrichter - eine so ungeheure Macht nahezu unkontrolliert in seinen Händen hält, ist in einem liberalen und demokratischen Rechtsstaat schon an und für sich inakzeptabel. Geradezu unerträglich wird es, wenn der betreffende Personenkreis weder eine spezifische demokratische Legitimation aufweist, noch sich zuvor durch herausragende Lebensleistungen ein besonderes Vertrauen verdient hat.
Und ein Skandal wird daraus, wenn die Richter von jedem seriösen Lerneffekt bezüglich der Richtigkeit ihrer Machtausübung abgeschnitten werden - abgekapselten Despoten vergleichbar, die nur die Einflüsterungen ihrer eigenen Kamarilla vernehmen und den Kontakt zu den Bewährungskriterien der sozialen Realität verloren haben ..."
Aus der Sicht des erfahrenen Juristen ist "der deutsche Strafprozess krank an Haupt und Gliedern."