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Jörg Kachelmann: Absprachen mit dem Strafrichter - eine "rechtsstaatliche Katastrophe"

Jörg Kachelmann übt eine Justiz-Kritik, die weit über seinen eigenen Fall hinausgeht: Häufige Absprachen zwischen dem Strafrichter, dem Staatsanwalt und dem Verteidiger benachteiligen die Angeklagten massiv und dienen der Arbeitserleichterung für beteiligte Juristen. Professor Dr. Bernd Schünemann, Strafrechtler an der Universität München, sieht in den Absprachen gleichfalls einen Teil einer "rechtsstaatlichen Katastrophe".

Kachelmann pointiert im Interview mit der "Zeit": "Wenn in deutschen Knästen alle Häftlinge tot umfallen würden, die Taten zugegeben haben, die sie nicht begangen hatten, wären die Knäste halb leer. Viele Beschuldigte werden erpresst und mit allen Mitteln dazu gebracht, Geständnisse abzulegen. Das ist das Wesen des sogenannten Deals vor Gericht.

Man gibt als Beschuldigter mehr zu, als man ausgefressen hat. Man räumt noch ein paar ungeklärte Fälle ein oder legt zu den tatsächlichen drei Kilo geschmuggelten Rauschgifts noch ein paar drauf - und hofft auf Gnade. Die Staatsanwälte freuen sich, ihre Fälle sind aufgeklärt, sie kriegen Fleißkärtchen, und die Erfolgsstatistik stimmt. Der allerorts übliche Deal ist eine staatlich sanktionierte Erpressung. Und die Verteidiger raten ihren Mandanten: 'Machen Sie mit, sonst ist der Staatsanwalt böse und fordert eine höhere Freiheitsstrafe.' Das alles habe ich im Knast gelernt. Kein Staatsanwalt will Arbeit mit einem Fall haben, kein Verteidiger kämpft mehr, und der Leidtragende ist der Angeklagte ..."

Die "Zeit" merkt an: "Sie reden über Deutschland wie über eine Bananenrepublik."

Professor Dr. Bernd Schünemann skizziert den Hintergrund des Phänomens: Er diagnostiziert "den Keim einer rechtsstaatlichen Katastrophe": "Die ernsthafte Gefahr für die materielle Wahrheitsfindung ist völlig außer Kontrolle geraten, seitdem die deutschen Strafrichter die Kompetenz zu Urteilsabsprachen an sich gerissen haben: wo der Richter selbst die Absprache trifft, nachdem er sie normalerweise mit einer größeren oder kleineren Sanktionsschere oder unter Ausnutzung laufender Untersuchungshaft dem Verteidiger schmackhaft gemacht hat."

Schünemann erinnert an eine Studie mit dem klaren Beleg dafür, "dass die Aufnahme der Absprachekommunikation ein 'way of no return' ist, weil der Richter unbewusst die Bereitschaft des Angeklagten zum Eintritt in derartige Gespräche als Schuldeingeständnis verwertet und dann in einer beweismäßig offenen Situation signifikant häufiger verurteilt als ohne eine derartige Vorgeschichte." Damit sind "auch die kümmerlichsten Reste einer Verfahrensbalance zerstört, indem so gut wie alle Gewalten in der Hand des Richters vereinigt werden und dieser im buchstäblichen Sinne zu jener 'furchtbaren Gewalt' avanciert, die in den Augen Montesquieus im Rechtsstaat unerträglich ist."


Blick über den Tellerrand – Dialog zwischen Recht und Empirie
Schüler-Springorum, H.; Nedopil, N. (Hrsg.)




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