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Jahrbuch Sucht 2013:
Suchthilfe - Groß geschrieben, kleingespart!

Deutschland verfügt über ein professionelles und stark differenziertes Suchthilfesystem mit einer Vielzahl sich ergänzender oder alternativer Leistungsangebote. Zur Sicherstellung der Versorgung gehört jedoch mehr: die Struktur muss auf finanziell gesicherter Basis stehen, die Schnittstellen zwischen den Hilfesystemen dürfen für die Betroffenen nicht zu unüberbrückbaren Bruchstellen werden und die Instrumente zur Reintegration in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt müssen auf die Bedarfe sehr verschiedenartiger Menschen mit sehr unterschiedlichen Problematiken ausgerichtet sein.

Die eindrucksvolle Struktur der Suchthilfe in Deutschland umfasst:

  • Niedrigschwellige Angebote: Sie sind ein in das Hilfesystem hineinführendes Angebot. Sie bieten Möglichkeiten für den Erstkontakt als Grundlage für weitere Hilfe, u.a. durch Streetwork, Konsumräume oder Kontaktläden mit sozialpädagogischer Betreuung.
    Bundesweit ca. 300 Angebote.
  • Suchtberatungs- und Behandlungsstellen: Sie sind die zentralen Anlaufstellen. Ihre wesentliche Aufgabe besteht in der Beratung und Betreuung Abhängigkeitskranker. Die dort beschäftigten Fachkräfte unterstützen Betroffene beim Aufbau der Motivation Hilfe anzunehmen. Sie erstellen Hilfepläne und vermitteln in weiterführende Angebote (soziale, berufliche, medizinische Rehabilitation). Suchtberatungs- und Behandlungsstellen übernehmen vielfach auch die psychosoziale Begleitung Substituierter, unterstützen Selbsthilfeprojekte und sind Fachstellen für Prävention.
    Bundesweit ca. 1.300 Stellen mit ca. 500.000 Klientinnen und Klienten.
  • Entgiftung und qualifizierter Entzug: Voraussetzung für weitere Hilfen ist bei Abhängigkeit von Alkohol oder illegalen Drogen meist die Entgiftung bzw. der qualifizierte Entzug.
    Bundesweit ca. 7.500 Plätze in über 300 spezialisierten Einrichtungen, meist Krankenhäuser.
  • Ambulante und stationäre medizinische Rehabilitation: Diese Behandlung erfolgt mit dem Ziel, Menschen wieder in das berufliche Leben zu integrieren. Es stehen verschiedene Angebote zur Verfügung. Wie sich die Behandlung gestaltet, wird entsprechend der medizinischen und psychosozialen Behandlungserfordernissen individuell und zeitlich begrenzt festgelegt. Sozialrechtlich ist die medizinische Rehabilitation eine Maßnahme in Verantwortung der gesetzlichen Rentenversicherung.
    Bundesweit etwa 720 anerkannte Einrichtungen und ca. 73.000 Maßnahmen jährlich.
  • Maßnahmen der Sozialen Rehabilitation sind bei mehrfachgeschädigten abhängigkeitskranken Menschen notwendig. Sie umfassen Hilfen zum Wohnen, zur Arbeit und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
    Bundesweit 268 Stationäre Einrichtungen der Sozialtherapie mit mehr als 10.700 Plätzen; 112 Teilstationäre Einrichtungen der Sozialtherapie mit mehr als 1.200 Plätzen; 460 Angebote des Ambulanten Betreuten Wohnens mit mehr als 12.000 Plätzen.
  • Selbsthilfe ist eine wichtige Säule im Hilfesystem der Suchtkrankenhilfe. Selbsthilfe lebt aus der Freiwilligkeit ihrer Mitglieder, wirkt ohne Zuweisung oder Kontrolle und ergänzt so die professionellen Hilfen mit einem eigenständigen Profil. Zur Verbesserung der "autonomen Lebenspraxis" abhängigkeitskranker Menschen sind wohnortnahe Selbsthilfeangebote Standard.
    Bundesweit ca. 8.700 Gruppen.

Dieses gut ausgebaute System der medizinischen und sozialen Sicherung ist jedoch in seiner Umsetzung für die betroffenen Menschen mit Mängeln behaftet. Dies hat verschiedene Gründe:

Erstens, Zuschüsse für Beratungsstellen werden von den Kommunen und den Ländern als freiwillige Leistungen verstanden, zu denen die Träger der Einrichtungen noch einmal rund 20% aus eigener Tasche dazu tun müssen. In einigen Bundesländern beträgt der Eigenanteil der Träger an der Finanzierung sogar 40 - 60%. Diese Leistungen sind variabel und jederzeit widerrufbar. Die Suchthilfeverbände als Arbeitgeber gehen hohe Risiken ein, wollen sie ein kontinuierliches Angebot vorhalten, denn sie müssen längerfristige Arbeits- und Mietverträge abschließen.
Folge: Die Struktur steht auf wackeligen finanziellen Füßen.

Zweitens, durch die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung und die gesetzliche Arbeitslosenversicherung stehen zwar eine Vielzahl an Leistungen auch für die Überwindung einer Abhängigkeit zur Verfügung, aber eine Vernetzung der Hilfesysteme ist im Sozialrecht nicht vorgesehen.
Folge: An den Übergängen zwischen den Leistungsbereichen entstehen Brüche, die für abhängigkeitskranke Menschen oft unüberbrückbar sind und Rückfälle verursachen.

Drittens, Leistungen für betroffene Menschen werden zu oft in unzureichendem Umfang, d.h. mit zu geringem Betreuungsaufwand oder zu geringer Dauer gewährt. Im Streitfall müssen dann die Sozialgerichte entscheiden, wie die Behandlung gestaltet wird, und selbst deren Urteile beeindrucken die Träger der Sozialversicherung nicht immer.
Folge: Die Betroffenen erhalten oft nicht die Hilfe, die sie benötigen, obwohl die Möglichkeiten vorhanden sind.

Viertens, besonders dramatisch ist die Lage bei der Förderung arbeitsloser Suchtkranker. Mit Verweis auf eine sinkende Arbeitslosigkeit hat die Bundesregierung Einsparungen bei der Arbeitsförderung realisiert, die zum 01.04.2012 mit dem "Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt" in Kraft traten.
Folge: Nur Menschen, die gute Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt haben, profitieren von der Reform. Für langzeitarbeitslose Menschen, die aus verschiedenen Gründen nur schwer in den Arbeitsmarkt vermittelt werden können, hat sie v.a. negative Konsequenzen. Niedrigschwellige Arbeitsprojekte und Qualifizierungsmaßnahmen erhalten kaum noch finanzielle Förderung.

Dies ist für die Verbände der Suchthilfe eine inakzeptable Situation, denn alle Suchtberater/-innen wissen, welche Erfolge ihre Arbeit erzielt und wie wichtig Rehabilitation, Arbeit und Tagesstruktur für Menschen mit einer Abhängigkeit sind. "Für die Leistungen bei der Versorgung Suchtkranker in Deutschland können wir Spitzennoten vergeben", zitiert Dr. Theo Wessel vom Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der EKD das Jahrbuch Sucht, "die Umsetzung der Hilfen im System der sozialen Sicherung weist aber noch deutliche Mängel auf."


Jahrbuch Sucht 2013
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) e.V. (Hrsg.)




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