Wie Gehirnareale miteinander verschaltet sind, spielt bei der Informationsverarbeitung eine wichtige Rolle. Durch den Auf- und Abbau der Nervenverbindungen zwischen Hirnarealen kann diese Verarbeitung verändert werden. Doch solche Vorgänge sind viel zu langsam, um schnelle Veränderungen in der Wahrnehmung zu erklären. Aus experimentellen Studien weiß man, dass die verantwortlichen Prozesse mindestens zwei Größenordnungen schneller sein müssen. Die Göttinger Wissenschaftler zeigen nun erstmals anhand von Computersimulationen, dass es möglich ist, in einem fest verschalteten Netzwerk den Informationsfluss auf einfache Weise zu verändern.
Viele Hirnareale zeigen regelmäßige Nervenzellaktivität. "Die interagierenden Hirnbereiche verhalten sich wie Metronome, die mit der gleichen Geschwindigkeiten und in einem bestimmten zeitlichen Muster schlagen", erklärt der Physiker und Leiter der Studie Dr. Demian Battaglia. Die Forscher konnten nun zeigen, dass dieses Muster den Informationsfluss bestimmt. "Beeinflusst man eines der Metronome, etwa durch einen äußeren Reiz, schlägt es danach mit einer anderen Geschwindigkeit oder in einem veränderten zeitlichen Muster mit den anderen Metronomen. Die anderen Areale stellen sich durch Selbstorganisationsprozesse darauf ein und spielen selbst in einem neuen Rhythmus. Darum genügt es, im Netzwerk eines der Areale zu beeinflussen, um die Funktionsweise des Netzwerks vollständig zu verändern", sagt Battaglia.
Der äußere Einfluss muss nicht besonders groß sein. "Wichtiger ist, dass der Kick genau zum richtigen Zeitpunkt im Rhythmus erfolgt", erklärt Battaglia. Der Prozess könnte in der Wahrnehmung von wesentlicher Bedeutung sein: "Wir sind darauf gepolt, in einem Bild möglichst schnell Gesichter zu erkennen, selbst wenn da keine sind. Wenn aber ein Duft an Wein erinnert, sehen wir sofort den Kelch im Bild. Dadurch können wir uns auch schnell auf Dinge einstellen, die wir nicht erwartet haben, indem wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit verschieben", erläutert der Göttinger Forscher.
Als nächstes möchten die Wissenschaftler das Modell an anatomisch realistischeren Netzwerken testen. Außerdem erhoffen sie sich, dass davon auch experimentelle Studien inspiriert werden, wie Battaglia meint: "Es wäre fantastisch, wenn in einigen Jahren einzelne Bereiche im Gehirn so fein und exakt stimuliert werden können, dass die von uns theoretisch vorhergesagten Effekte durch bildgebende Verfahren messbar werden."
Das Bernstein Zentrum Göttingen ist Teil des Nationalen Bernstein Netzwerks Computational Neuroscience (NNCN). Das NNCN wurde vom BMBF mit dem Ziel gegründet, die Kapazitäten im Bereich der neuen Forschungsdisziplin Computational Neuroscience zu bündeln, zu vernetzen und weiterzuentwickeln. Das Netzwerk ist benannt nach dem deutschen Physiologen Julius Bernstein (1835-1917).