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Glück ist nicht mehr das Ziel

Was haben glückliche Menschen, was unglückliche nicht haben? Das war lange die zentrale Frage der positiven Psychologie. Doch der Fokus soll nun mehr auf das Wohlbefinden gehen.

Das Glück werde überbewertet, schreibt Martin Seligman in seinem neuen Buch «Flourish» (blühen). Dies ist eine bemerkenswerte Aussage für einen, der wenige Jahre zuvor die Theorie des Glücks beschrieben hat. Als Martin Seligman im Jahr 1998 die Präsidentschaft der Amerikanischen Psychologen Vereinigung innehatte, begründete er offiziell eine neue Wissenschaft: die positive Psychologie. «Ich habe jahrelang Patienten behandelt, denen es schlechtging», erklärt er, «ich dachte, wenn ich sie von ihrem Leid befreite, seien sie glücklich. Doch hatte ich am Schluss keinen glücklichen, sondern einen leeren Patienten vor mir.» Die positive Psychologie soll deshalb beschreiben, wie man ein erfülltes Leben lebt.

Unzulänglichkeiten erkannt

Nachdem Seligman im Jahr 2002 in einem Buch die Theorie des Glücks dargelegt hatte, sind ihm einige Unzulänglichkeiten aufgefallen. Erstens wird das Wort Glück gewöhnlich mit einem Zustand der heiteren Gefühle assoziiert. Diese positiven Emotionen sind aber nur ein Element in seiner Theorie des Glücks. Gemäss dieser entsteht Glück durch drei Elemente: positive Emotionen, Selbstverwirklichung und Bedeutung im Leben («meaning»). Bei der Selbstverwirklichung geht es darum, seine eigenen Stärken zu erkennen und sie in einer Tätigkeit anzuwenden, in der man völlig aufgehen kann. Mit Bedeutung ist gemeint, seine Stärken und Tugenden zugunsten eines höheren Ziels oder der Gemeinschaft einzusetzen.

Als zweite Unzulänglichkeit der Theorie des Glücks nennt Seligman, dass als Messwert meist die Lebenszufriedenheit gewählt wird. Studien hätten aber gezeigt, dass sich Menschen stark von ihrem momentanen Gefühlszustand leiten liessen, wenn sie auf einer Skala von 1 bis 10 ihre Lebenszufriedenheit angeben sollen. Somit ist der Messwert überproportional an die Stimmungslage gekoppelt. Und drittens findet Seligman nun, dass es mehr als drei Elemente gibt, die Menschen im Leben anstreben. Dies gründet auf der Beobachtung, dass viele etwas erreichen wollen, nur um etwas erreicht zu haben. Sie verdienen immer mehr Geld, ohne es auszugeben, oder wollen ein Spiel gewinnen, nur um zu gewinnen. Dies nennt Seligman im Englischen «accomplishment» (Leistung). Menschen sind also leistungsorientiert. Zudem sind sie aber auch soziale Wesen, weshalb gute Beziehungen wichtig für sie sind.

In seiner neuen Theorie, die Seligman nun die Theorie des Wohlbefindens nennt, gibt es deshalb fünf Elemente: positive Emotionen, Selbstverwirklichung, gute Beziehungen, Bedeutung und Leistungsorientierung. Diese können unabhängig voneinander in Fragebögen erhoben und in fünf verschiedenen Messwerten wiedergegeben werden. Alle zusammen gerechnet beschreiben das Wohlbefinden einer Person. Manche Menschen haben wenig positive Emotionen oder geringes Interesse an Beziehungen, dafür liegt ihnen viel an Selbstverwirklichung. Um das individuelle Wohlbefinden zu erfassen, müsse man deshalb auch wissen, wie wichtig jeder einzelne Wert für eine Person sei, sagt Seligman.

Die drei ursprünglichen Elemente seiner Theorie sind in der positiven Psychologie gut erforscht. Viele Studien zeigen, dass Menschen, die oft positive Emotionen haben, die häufig in ihren Tätigkeiten aufgehen und in ihrem Leben viel Bedeutung sehen, grundsätzlich zufriedener oder glücklicher sind als Menschen, die weniger der drei Elemente haben. Allerdings stammen die meisten Ergebnisse aus Studien, welche untersuchen, wie sehr die einzelnen Elemente mit der Lebenszufriedenheit korrelieren. Dies erlaubt aber keine Aussage über Ursache und Wirkung. Es könnte also auch sein, dass Menschen oft positive Emotionen haben, häufig in einer Tätigkeit aufgehen und viel Bedeutung in ihrem Leben sehen, weil sie von Natur aus zufriedener sind.

Einige Hinweise dafür, dass sich die einzelnen Komponenten auf die Lebenszufriedenheit auswirken und nicht umgekehrt, hat man jedoch aus Interventionsstudien. So versucht man etwa bei Probanden positive Emotionen zu trainieren oder zu stärken, indem man sie jeden Abend drei Geschehen des Tages aufschreiben lässt, die gut gelaufen sind, und was der Grund dafür ist. In einer Kontrollgruppe bearbeiteten Probanden andere Aufgaben. Eine Woche danach ging es den Probanden durchschnittlich besser, sie waren glücklicher und weniger depressiv. Während sich der Effekt in der Kontrollgruppe jedoch schnell verflüchtigte, war er in der Gruppe mit dem «Was lief gut?»-Training auch sechs Monate später noch nachweisbar.

Ähnliche Studien wurden auch für die beiden anderen Variablen durchgeführt. Dagegen gibt es für das Element Beziehungen erst wenige und für Leistungsorientierung noch fast keine Studien. Doch komme Seligmans Theorie nicht aus dem Nichts, sagt Willibald Ruch, Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Universität Zürich. Seligman habe sich viel überlegt und ein Konzept präsentiert, das man jetzt überprüfen müsse. Möglich sei, dass man ein Element verwerfen oder ein anderes hinzufügen müsse. Laut Seligman muss jede Komponente des Wohlbefindens drei Kriterien erfüllen: 1. Sie muss zum Wohlbefinden beitragen. 2. Man muss sie um ihrer selbst willen verfolgen und nicht, um ein anderes Element zu erreichen. So will man etwa Bedeutung im Leben um der Bedeutung willen und nicht, um positive Emotionen zu erfahren. 3. Das Element muss unabhängig von den anderen Elementen definiert und messbar sein.

Nicht alles, was Seligman in seinem Buch beschreibt, dürfte für jeden nachvollziehbar sein, und manches bedarf wohl noch einer wissenschaftlichen Überprüfung. Doch kann man es als einen Versuch verstehen, wichtige Fragen des Lebens, mit denen sich ehemals Philosophie oder Religion und in neuster Zeit verschiedene esoterische Strömungen befassten, auf eine naturwissenschaftliche Weise anzugehen.

Klassifikation der Stärken

Im letzten Jahrhundert hat sich die Psychologie hauptsächlich mit den Leiden und Krankheiten der Menschheit beschäftigt und praktisch nicht mit den positiven Seiten der Psyche. Das war nicht immer so. Noch im 19. Jahrhundert sei es viel ausgeglichener gewesen, man habe unter anderem versucht, das Schöne oder die Hochbegabung zu erklären, sagt Ruch. Er habe 1980 über den Humor promoviert und sei damals gefragt worden, warum er sich nicht mit etwas Wichtigerem beschäftige. Man sei erfolgreich, wenn man Depressionen erforsche, doch die meisten Menschen wollten nicht wissen, wie sie von -5 auf 0 kämen, sondern wie sie von 0 auf 5 kämen. Diesen 70 Prozent psychisch gesunder Menschen könne die Psychologie bis anhin nichts bieten, sagt er.

Doch Zufriedenheit oder Wohlbefinden ist lernbar - dies glauben jene, die sich damit beschäftigen. Das Ziel der positiven Psychologie ist, die Spreu vom Weizen zu trennen. Mit evidenzbasierter Wissenschaft, also mit Placebo-kontrollierten Studien, sollen Trainings, Methoden oder Verhaltensweisen erforscht werden, die das Wohlbefinden steigern. Noch kann man die Lehrstühle für positive Psychologie an einer Hand abzählen. Doch organisieren die International Positive Psychology Association und das European Network of Positive Psychology internationale Kongresse und bringen Forscher zusammen, die sich für diese Fragen interessieren.

In Zürich untersuchen Ruch und René Proyer, wie bestimmte Interventionen die Lebenszufriedenheit beeinflussen. Seligman und der Psychologe Christopher Peterson haben 2004 eine Klassifikation von Charakterstärken und Tugenden publiziert. Dafür haben sie die philosophische, religiöse und psychologische Literatur ebenso gesichtet wie Tugendkataloge von gemeinnützigen Vereinen. Damit eine Eigenschaft als Charakterstärke in die Klassifikation aufgenommen wurde, musste sie 10 Kriterien erfüllen. Entstanden ist die «Values in Action Classification of Strength and Virtues» (VIA). Diese enthält 6 Tugenden und 24 Stärken, wie etwa Kreativität, Ehrlichkeit oder Humor, und gilt als Gegenstück zum «Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen» (DSM).

In vielen Studien hat sich gezeigt, dass einige Charakterstärken, wie etwa Dankbarkeit, mehr mit der Lebenszufriedenheit korrelieren als andere. Die Zürcher Forscher wollen überprüfen, ob die Beschäftigung mit solchen Stärken oder mit individuell besonders ausgeprägten Stärken das Wohlbefinden steigern kann. In ihrer Studie trainieren Gruppen von Probanden jeweils fünf Stärken, indem sie sie einige Wochen in ihrem Alltag bewusst anwenden und zum Beispiel deutlich ihre Dankbarkeit gegenüber Kollegen zeigen, sofern es angebracht ist. Vor und nach dem Training wird die generelle Lebenszufriedenheit erhoben. Endgültige Resultate gibt es bis jetzt noch nicht, aber laut Ruch ermutigende Zwischenergebnisse.

Wohlbefinden unterschiedlich

Dass es wichtig ist, die Stärken eines Menschen zu mobilisieren, sei nichts Neues, sagt Daniel Hell, der ehemalige Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er findet es aber bedenklich, wenn Menschen das Gefühl vermittelt wird, sie seien selber daran schuld, wenn sie nicht glücklich seien. Das könne einen grossen Erwartungsdruck erzeugen. Menschen könnten nicht immer glücklich oder zufrieden sein, es gebe auch Krisen, die wichtig für die persönliche Entwicklung seien.

Seligman bestreitet dies nicht. Es sei auch nicht so, dass jeder das gleiche Mass an Wohlbefinden erreichen könne. Bestimmte Aspekte seien genetisch vorbestimmt oder würden von den Lebensumständen beeinflusst. Doch andere seien trainierbar. Und deshalb ist er überzeugt, dass jeder mehr Wohlbefinden erreichen kann, als er momentan hat. Nicht alle werden mit seinen Techniken etwas anfangen können. Doch für einige scheinen sie zu funktionieren.




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