Ein ähnliches Erfahrungswissen bildet sich auch bei Fallbearbeitern in der Finanzverwaltung heraus", sagt Dr. Enrico Schöbel. Er arbeitet am Institut für Öffentliche Finanzen und Public Management der Universität Leipzig und hat seine aktuellen Forschungsergebnisse in der Fachzeitschrift "Perspektiven der Wirtschaftspolitik" veröffentlicht.
"Wie Polizisten zumeist nicht beschreiben können, woran sie einen Rauschgifthändler erkennen können, sind auch Finanzbeamte in der Regel nicht in der Lage, zu erklären, was einen typischen Steuerhinterzieher ausmacht", erklärt er weiter. Dennoch komme dem unbewussten Erfahrungswissen, das sich bei der Bearbeitung von Steuererklärungen und dem Austausch innerhalb des Finanzamtes entwickelt hat, eine hohe Relevanz zu. "Die Herausforderung besteht darin, diejenigen Steuerfälle auszuwählen, die einer intensiveren Bearbeitung bedürfen, weil sonst ohne eine solche Prüfung möglicherweise zu geringe Steuern erhoben werden würden", erläutert Schöbel, der sich schon in seiner Promotionsschrift mit der Finanzverwaltung in der Bundesrepublik befasst hatte, die er 2008 an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt verteidigt hatte.
Generell, so schätzt es der Finanzwissenschaftler ein, existiert in Deutschland in Bezug auf die Finanzbehörden eine Forschungslücke. "Während die Steuerbehörden in den USA im National Research Program oder auch bei uns die Bundesagentur für Arbeit und die von ihr verwandten arbeitsmarktpolitischen Instrumente regelmäßig wirtschafts- und sozialwissenschaftlich auf ihre Wirkung hin untersucht werden, sind zur Arbeit der deutschen Steuerverwaltung kaum entsprechende Studien vorhanden", berichtet Schöbel. Für seine jetzige Veröffentlichung nutzte der Wissenschaftler Ergebnisse von Feldexperimenten, die in der niedersächsischen Steuerverwaltung unter dem Titel "Finanzamt 2003" durchgeführt worden waren. Bei dem einjährigen Modellversuch von 2002 bis 2003 waren die Finanzämter Zeven, Cuxhaven und Hannover-Mitte beteiligt gewesen, wobei sowohl Abteilungen teilgenommen hatten, die Steuerbescheide für Arbeitnehmer erstellen, als auch solche, die Steuererklärungen von Selbständigen bearbeiten.
"In allen Modellbereichen der drei Finanzämter geht eine stärkere Einbindung von Erfahrungswissen der Beamten mit wesentlich höheren Trefferquoten und erheblich steuererhöhenden Abweichungen einher", erläutert Schöbel. Als Treffer zählen Fälle, bei denen die Finanzbehörden die Steuererklärungen genauer untersucht und festgestellt haben, dass von den in den Steuererklärungen gemachten Angaben abzuweichen ist und mehr Steuern gezahlt werden müssen. Den intuitiven Entscheidungen, die dem Bauchgefühl der Bearbeiter in der Finanzverwaltung entstammen, misst der promovierte Volkswirt auch deshalb eine große Bedeutung zu, weil dadurch mehr diejenigen Steuerfälle identifiziert werden, die tatsächlich prüfungsbedürftig sind, also bei denen eine intensivere Bearbeitung der Steuererklärungen in der Regel zu höheren Steuereinnahmen und damit mehr Geld für die Staatskasse führen.
"Es besteht nämlich die Gefahr, dass zusätzliche Kontrollen und ungerechtfertigte Verdächtigungen die Einstellungen der ehrlichen Steuerzahler gegenüber dem Staat und der Besteuerung beeinträchtigen und damit letztlich zu weniger anstatt zu mehr Befolgung führen", ergänzt Schöbel. Die Steuermoral sei in der Bundesrepublik relativ gut ausgeprägt, die Steuern würden überwiegend bereitwillig gezahlt. "Außerdem nehmen die Steuerzahler als Wähler, die sie zugleich sind, über den politischen Prozess Einfluss auf die Entwicklung des Steuerrechts, sodass eine Kriminalisierung weiter Teile der Steuerzahler kaum bürgerliche Akzeptanz und rechtliche Anwendung finden dürfte", schätzt der Fachmann ein. Steuerehrlichkeit sei nicht nur ein individuelles, sondern gleichermaßen ein gesellschaftliches Phänomen, da die Normativität der Steuerehrlichkeit durch das wechselseitige Interagieren zahlreicher Akteure im gesellschaftlichen Prozess fortwährend infrage gestellt und neu definiert werde.