Psychologen "nehmen an, dass grundsätzlich ein positiver Zusammenhang zwischen ästhetischem Genuss und der Verarbeitungsgeschwindigkeit besteht: Je geringer der kognitive Aufwand ist, mit dem ein Reiz verarbeitet wird, desto positiver wird er bewertet. Dieser Ansatz macht die Popularität von Kitsch verständlich: Die Fixierung auf vertraute Inhalte, das Festhalten an bewährten Darstellungskonventionen und der exzessive Gebrauch von supernormalen Reizen (z.B. übertriebene Ausprägungen des Kindchenschemas) - all diese Aspekte deuten darauf hin, dass der Reiz von Kitsch in einer, durch schnelle Reizverarbeitung vermittelten, intensiven emotionalen Reaktion liegt.
Interessanterweise bilden die Aspekte - Eingängigkeit, Sentimentalität, Trivialität - zugleich die stärksten Einwände, die gegen Kitsch vorgebracht werden. Warum ist es verwerflich, wenn uns Kitsch auf einer emotionalen Ebene unmittelbar anspricht?" fragen Stefan Ortlieb und Claus-Cristian Carbon in ihrem Beitrag zur "Evolutionären Ästhetik". "Kitsch ist vertraut, gefühlsbetont und leicht zugänglich. Daher wird er von Personen, die einen hohen Autonomieanspruch vertreten und bestrebt sind, neue Einsichten zu entwickeln, als gefällig, nostalgisch, sentimental und trivial abgelehnt. Indem Kitsch sozial erwünschte, normative und klischeehafte Vorstellungen kritiklos bekräftigt, frustriert er unser Bedürfnis nach Autonomie und Abgrenzung. Statt eine kritische Distanz zu ermöglichen, wirkt Kitsch in diesem Fall aufdringlich."
Wieviel Kitsch vertragen wir? Ortlieb und Carbon bringen es auf den Punkt: "Da unser Kompetenzgefühl und damit unser Autonomieanspruch situationsabhängig variieren, besteht ein ambivalentes Verhältnis zum Kitsch: Wenn wir uns unsicher und abhängig fühlen, werden wir für seinen Zauber empfänglicher, während sich unsere Geringschätzung in dem Maß verstärkt, in dem wir uns als kompetent und selbstbestimmt erleben."
Evolutionäre Ästhetik
Schwender, Clemens; Lange, Benjamin P.; Schwarz, Sascha (Hrsg.)