"Re-Analysen führen recht häufig zu dem Ergebnis, dass Diagnostiker im Falle eines ´Nichtverstehens´ oder in der Unkenntnis kultureller Eigenarten dazu neigen, vorschnell oder vorrangig auf die eigenen gelernten Bewertungssysteme der Psychotherapie zurückzugreifen...
In Fallberichten findet sich bei fast allen kulturellen Störungen immer wieder die Hypothese einer ´psychotischen Störung´ oder ´Schizophrenie´, die sich bei genauer Betrachtung als fehlerhaft oder falsch erwies. Auch die Sammelbegriffe ´Hysterie´ und ´Psychopathie´ werden (nach wie vor) gern eingesetzt, obwohl sie u.a. wegen ihrer Überbedeutung längst abgeschafft wurden.
Ein zweites Bias grundlegender Art findet sich bei eher diagnoseskeptischen Autoren. Diese suchen ihre Lösung zur Bewertung kultureller Störungen in einem Abgleich mit Ätiologieüberlegungen ihrer Therapieschule. Derartige Fallberichte sind z.B. gespickt mit Hinweisen auf eine fragwürdige ödipale oder auch präödipale Verursachung mit zum Teil hoch kompliziert abgefassten Begründungen. Auch die verhaltenstherapeutische Ursachenvermutung einer instrumentellen oder klassischen Konditionierung wird nicht selten vertreten.
Ein drittes Bias findet sich bei Autoren, die eine grundsätzliche Skepsis gegenüber jedweder Art psychiatrischer Diagnostik propagieren. Entsprechend wird versucht, ausschließlich die in den jeweiligen Kulturkreisen gültigen Vorstellungen bei Diagnosevergabe, Erklärung und Behandlung zu bevorzugen ..."
Die Studie ist enthalten in dem aktuellen Aufsatzband:
Uwe Wolfradt, Gerhard Heim, Peter Fiedler (Hrsg.) Dissoziation und Kultur. (Pierre Janets Beiträge zur modernen Psychiatrie und Psychologie, Band 3), Pabst 2013, 120 Seiten, ISBN 978-3-89967-887-1