Das große Verdienst von Jüttemann und Mack ist es, mit ihrer Schrift die "Ganzheit des individuellen Menschen" in seiner biographisch-historischen Gewordenheit, seinen Kommunikationen, der Fremd- und Selbstwahrnehmung, seinen Fähigkeiten und Schwächen, kurz gesagt in seiner individuellen Struktur wieder in den Vordergrund gerückt zu haben. "Konkrete Psychologie" geht nicht aus intellektuellen Abstraktionen hervor, sondern ist eine lebensnahe und nützliche Psychologie, betont Carlos Kölbl. Die Unterscheidung Hegels benutzend wendet sie sich gegen die "abstrakte" Laboratoriums-"psychologie". Entgegen dieser soll konkrete Psychologie den realen Lebensumständen gerecht werden. Dabei wird der biographisch-historische Aspekt ebenso für die Psychogenese von Bedeutung wie die soziale Dimension im großen und kleinen Rahmen. Anstelle der reinen seelischen Funktionen, die sich mathematisch in "Variablen" zeigen, wird die "Sinn- und Bedeutungsstruktur des Psychischen" betont.
Hier sei die Kritik des Rezensenten an der "Variablen-Schlaumeierei" erwähnt, welche vielfach an die Stelle des konkret-erlebenden "Subjekts" tritt. Hier geht es um die individuelle, wenn auch in allgemein gültigen seelischen Regelhaftigkeiten erfassbare Existenz des Menschen. Das Unterfangen der Autoren ist besonders in einer Zeit heilsam, in welcher die Psyche Opfer einer "Gehirnmythologie" zu werden droht.
Die Autoren beziehen sich dabei auf Altväter der wissenschaftlichen Psychologie: Schon Wilhelm Wundt (Gründer des weltweit ersten experimentalpsychologischen Laboratoriums 1875 in Leipzig) vertrat einerseits das "Laborexperiment als die via regia" der Forschung. Ein derartiges Vorgehen nennen die Autoren "abstrakte Psychologie". Andererseits hat auch schon Wundt die einzelnen Funktionen in ein Gesamtmodell, also in Richtung einer "konkreten Psychologie" integriert, das philosophisch inspiriert sein soll.
Gewürdigt werden in vielen Beiträgen andere Autoren, welche im Gegensatz zur zerlegenden Funktionsanalyse den Menschen in den zahlreichen Aspekten seiner individuellen Erlebensweise, also im Zusammenspiel der einzelnen Einflussgrößen betrachten. So widmen sich die Artikel etwa William Stern, Georges Politzer, Hans Thomae und Wilhelm Dilthey. Letzterer stellte ähnlich wie Wundt die Beziehung zwischen Psychologie und Philosophie heraus.
Kritisch ist zu bemerken, weil übersehen, dass in der historischen Perspektive die phänomenologische Psychologie philosophischer Prägung im Sinne von Rothacker, Rohracher und Lersch auch im akademischen Unterricht zumindest in Deutschland noch bis in das Ende des letzten Jahrhunderts hinein vermittelt wurde. Das experimentell-mathematische Vorgehen in der Psychologie erlangte im Gegensatz zu den angloamerikanischen Ländern hierzulande erst wesentlich später Bedeutung.
Die diversen Artikel behandeln das Thema aus teils sehr unterschiedlichen Perspektiven. Der Sprachstil einiger Autoren verlangt vom Leser zum Verständnis wiederholtes Durcharbeiten. Doch das lohnt sich. Denn insgesamt stellt das Werk die "konkrete Psychologie" mit ihrer "Gestaltungsanalyse" zu der gegenwärtig weithin vorherrschenden "abstrakten Psychologie" mit ihrer Funktionsanalyse ein erfreuliches Gegengewicht dar. Wer sich auch außerhalb des "Mainstreams" der gegenwärtigen Psychologie und der Wissenschaftsgeschichte der Psychologie orientieren möchte, dem ist das Buch nachdrücklich zu empfehlen. Es lässt die Hoffnung wachsen, dass Psychologie endlich wieder eine Wissenschaft der menschlichen Seele wird."
Konkrete Psychologie – Die Gestaltungsanalyse der Handlungswelt
Jüttemann, G.; Mack, W. (Hrsg.)