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Der Griff nach dem Bewusstsein

Lausanner Neurowissenschafter versprechen, das menschliche Gehirn innert zehn Jahren in einem Supercomputer zu simulieren. Das Projekt stösst bei einigen Forschern auf Skepsis.

Für Henry Markram ist keine Herausforderung zu gross. Er ist Professor für Neurobiologie an der ETH Lausanne und will innerhalb von zehn Jahren das menschliche Gehirn mit einem Supercomputer simulieren können. Damit sollen die Leistungen des Gehirns, aber auch seine Fehlfunktionen, die zu psychischen oder neurodegenerativen Krankheiten führen, erklärt werden können; und Markram schliesst nicht aus, dass eine solche Simulation Bewusstsein entwickeln könne. Man habe nun genug Detailinformationen über das Gehirn gesammelt. Es sei an der Zeit, diese zusammenzubringen, sagt er.

Computer ersetzt Experiment

Im Jahr 2005 hat Markram bereits einen Supercomputer angeschafft, um eine kleine Untereinheit der Grosshirnrinde von jungen Ratten zu simulieren: die kortikale Säule. Das Vorhaben läuft unter dem Namen Blue Brain Project. Mit dem Human Brain Project (HBP) geht Markram noch einen mächtigen Schritt weiter. Er will, im übertragenen Sinn, nicht nur um die Erde fliegen, sondern bis zum Mond. Das Ziel ist, eine technische Plattform aufzubauen, mit der Neurowissenschafter ihre Experimente virtuell durchführen können, anstatt immer neue Hirnschnitte präparieren zu müssen.

Das Projekt wurde kürzlich als eines von sechs Kandidaten ausgewählt, die Chancen auf eine Milliarde Euro Unterstützung durch die EU haben (siehe NZZ vom 5. 5. 11). Es erstaunt deshalb nicht, dass Markrams Labor einem PR-Büro gleicht. Die Forschungsgruppe hat einen Pressesprecher, einen Verantwortlichen für Wissenschaftskommunikation und mehrere Projektmanager. Ein Gespräch mit Markram ist nur kurz zwischen Vorträgen und Abendessen möglich. Der Professor hat viel zu tun. Von Postdocs durchs Labor geführt zu werden, sei nicht angebracht, da sie die Übersicht über das Projekt nicht hätten, sagt er auf Anfrage.

Markrams Gruppe versucht, Teile des Gehirns möglichst detailgetreu im Computer abzubilden. Dabei konzentriert sie sich auf die Grosshirnrinde, in der kognitive Prozesse und die Verarbeitung von Sinnesinformationen ablaufen. Die Hirnrinde ist einige Millimeter dick und aus sechs übereinander gelagerten Schichten aufgebaut, in der verschiedene Typen von Nervenzellen in unterschiedlicher Dichte und Vernetzung angeordnet sind. Vertikal zu den Schichten geht man von einer säulenartigen Struktur aus. In diesen Säulen sehen viele die Grundrecheneinheit des Gehirns, ähnlich wie ein Mikrochip im Computer. Man nimmt an, dass diese Grundeinheiten bei allen Säugetieren sehr ähnlich sind; und Markram geht davon aus, dass ihre Anzahl die Intelligenz einer Art massgeblich bestimmt.

Die Lausanner Forscher fingen damit an, die zellulären Details einer kortikalen Säule in einem Teil der Hirnrinde von Ratten aufzuzeichnen, die Informationen des Tastsinns verarbeiten. In Hirnschnitten stimulierten sie mit einzelnen Elektroden Neuronen, während sie in benachbarten Nervenzellen mit weiteren Elektroden massen, ob diese Zellen durch das stimulierte Neuron aktiviert wurden. Dadurch erhielten sie Aufschluss über die Vernetzung der Nervenzellen. Nach der elektrischen Messung spritzten sie einen Farbstoff in die Neuronen, um ihre Form und ihren Verlauf unter dem Mikroskop verfolgen zu können. Die Forscher konnten aber nicht alle der ungefähr 10 000 Neuronen einer kortikalen Säule auf diese Weise vermessen. Deshalb wurden die verschiedenen Typen im Modell vielfach kopiert und nach statistischen Kriterien in den verschiedenen Schichten angeordnet. Die zahlreichen Kontaktstellen zwischen den Neuronen (Synapsen) sind zu klein, um unter dem Lichtmikroskop gesehen zu werden. Folglich mussten deren Position und Anzahl ebenfalls nach statistischen Methoden berechnet werden.

In Computeranimationen, die Markram gern an Vorträgen zeigt, kann man nun die elektrische Aktivität der Neuronen in dieser kortikalen Säule einer Ratte bestaunen. Wie in echten Hirnschnitten können auch im Modell virtuelle Elektroden gesetzt und Messungen gemacht werden. Der Vorteil gegenüber den Hirnschnitten ist, dass alle modellierten Neuronen gleichzeitig beobachtet werden können; der Nachteil ist, dass es eben nur ein Modell ist.

Die Simulation läuft auf einem Supercomputer mit über 8000 Prozessoren - etwa ein Prozessor pro Neuron. Für das Human Brain Project soll nun ein grösserer Computer konstruiert werden, dies in Zusammenarbeit mit den grossen Herstellern IBM, Intel und Cray. Eine Firma darf dann zwei Stück davon liefern: einen Hauptcomputer, der im deutschen Jülich stehen soll, und einen Entwicklungscomputer, der am Hochleistungsrechenzentrum in Manno bei Lugano stehen soll. Um die grossen Datenmengen für die Simulierung des menschlichen Gehirns verarbeiten zu können, muss der neue Supercomputer etwa tausendmal schneller als der schnellste von heute sein.

Im HBP möchte man schrittweise vorgehen und erst Hirnregionen, dann ganze Gehirne simulieren, zuerst kleine Gehirne, dann grössere: von der Ratte zur Katze, zum Affen und schliesslich zum Menschen. Gleichzeitig sollen die Details bis hin zur molekularen Ebene verfeinert werden. Zum Beispiel sollen die Ionenkanäle in der Zellmembran, welche die elektrische Aktivität weiterleiten, berücksichtigt werden. Die gesamte Erkenntnis von etwa zehn Millionen wissenschaftlichen Artikeln der Neurobiologie soll laut Markram systematisch und automatisch analysiert und in das Modell eingefügt werden. Auf Kritik an der Machbarkeit seines Mondflugs geht Markram nicht ein.

Keine Resultate publiziert

Wie viele Projekte mit hohen Zielen oder Visionen löst auch Markrams Vorhaben unter Kollegen teilweise grosse Skepsis aus. Viele wollen sich aber nicht offen dazu äussern. Sie seien nicht auf dem neusten Wissensstand bezüglich des Projekts oder fühlten sich nicht kompetent genug auf dem Gebiet, lautet die Begründung. Rodney Douglas, Kevan Martin und Richard Hahnloser vom Institut für Neuroinformatik der ETH und der Universität Zürich haben es dennoch gewagt. In einem Leserbrief an den «Tages-Anzeiger» beklagten sie sich unter anderem über die Verschwendung öffentlicher Gelder. Hahnloser sagte gegenüber der NZZ: «Es ist ungeheuerlich, für Projekte, die ins Blaue schiessen, Hunderte von Millionen auszugeben.» Wie viel Geld die ETH Lausanne für das Blue Brain Project zwischen 2005 und 2011 bezahlte, gab sie auf Anfrage nicht bekannt. Der Supercomputer allein kostete zehn Millionen Franken.

Fragwürdig sei ausserdem, dass die Resultate nicht publiziert worden seien, bemängeln die drei Zürcher Forscher. Das meiste, was sie über die Resultate erfahren hätten, stamme aus einem von Markrams Vorträgen, die im Internet heruntergeladen werden können. Markram reagiert auf diesen Vorwurf ungehalten, dies sei das offenste Projekt auf dem Planeten. Er habe die Zürcher etwa sechsmal eingeladen, und sie seien nicht gekommen. Dies wird von den drei Forschern wiederum bestritten.

Markram erklärt, er sei voll damit beschäftigt, die Plattform aufzubauen. Publizieren sei nicht seine Priorität. Die grobe Methode habe er schon publiziert, und erste Resultate seien auf mehrere Artikel verteilt worden. Douglas, Martin und Hahnloser kritisieren jedoch, dass dies experimentelle Arbeiten seien, die keine wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Simulation enthielten. Martin findet schon den theoretischen Ansatz des Projektes verfehlt, nach dem sich aus einer Simulation etwas völlig Unerwartetes und zudem Verständliches herausbilden soll. Alles, was eine Simulation je generieren oder erklären könne, sei Ausdruck der programmierten Regeln des Modells, sagt Martin. Der Output müsse auf irgendeine Weise schon in der Logik des Systems enthalten sein, die der Programmierer vorgebe. Deshalb könne ein Modell nichts erklären, was ausserhalb seines Rahmens liege.

Unterstützung trotz Kritik

Mit seiner virtuellen Plattform möchte Markram den Einfluss von Wirkstoffen auf geistige Krankheiten wie Autismus testen und auf diese Weise Tierversuche vermeiden. Das klinge gut, sei aber extrem fragwürdig, meint Klaus Pawelzik, Professor für theoretische Physik an der Universität Bremen. Man müsse so viele Annahmen für Parameter am Modell machen, dass man nicht sicher sein könne, ob ein beobachteter Effekt von dem virtuellen Wirkstoff komme oder durch eine der unzähligen Annahmen verursacht worden sei.

Markram sieht sein Hirnmodell bestätigt, weil er dort Muster neuronaler Aktivitäten beobachten kann, die auch im echten Gehirn typisch sind, zum Beispiel Gamma-Oszillationen. Das sind rhythmische Aktivitäten in einer bestimmten Frequenz. Pawelzik erstaunt das nicht besonders. Ihm würden zwei Neuronen reichen, um Gamma-Oszillationen zu generieren, wenn er die Parameter richtig gesetzt habe.

Alexander Borst vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried hält die Versprechung, mit Hilfe der Simulation Krankheiten verstehen zu können und Medikamentenforschung ohne Tierversuche zu betreiben, auch für überzogen. Man wisse nicht einmal, ob die Verbindungen zwischen Neuronen statistischer Natur seien oder ob es auf individuelle Verbindungen ankomme, sagt Borst. Hingegen gesteht er Markram durchaus zu, durch sein Projekt schon heute viele nützliche experimentelle Methoden entwickelt zu haben. Und trotz ihren Bedenken haben Pawelzik und Borst gemeinsam mit anderen Forschern des Bernstein-Netzwerkes Computational Neuroscience Markram in einem Brief ihre Unterstützung zugesagt. Auch wenn es zum Mond vielleicht nicht reichen wird, so sind immerhin schon Satelliten in der Umlaufbahn.




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