Stellen Sie sich vor, Sie gehen in den Keller, um die Wäsche aus der Maschine zu nehmen, schalten das Licht ein, und da sehen Sie sie: An der Wand gleich neben dem Lichtschalter sitzt eine Spinne, handtellergroß, schwarz mit behaarten Beinen, und rührt sich nicht. Nehmen Sie jetzt seelenruhig die Wäsche mit und gehen wieder nach oben, nachdem sie das Licht wieder ausgeschaltet haben? Oder erstarren Sie kurz und ergreifen dann eilig mit rasendem Herzen die Flucht, wobei Sie sich schwören, den noch immer hell erleuchteten Keller auf keinen Fall wieder zu betreten, ehe nicht jemand ihn von diesem bedrohlichen Tier befreit hat? Falls letzteres der Fall sein sollte, sind Sie in guter Gesellschaft. Spinnenangst ist eine der verbreitetsten Phobien.
Prof. Dr. Armin Zlomuzica hat sie nicht. Dafür beherbergt er in seiner Abteilung für Verhaltens- und klinische Neurowissenschaften am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum einige beeindruckende Spinnen-Exemplare, darunter Taranteln, die von seinem Team liebevoll gehegt und gepflegt werden. Sie versehen einen wichtigen Job in der Therapie von Patient*innen mit Spinnenangst. „Die nachgewiesenermaßen erfolgreichste Therapie bei Angststörungen und Phobien wie Spinnen- oder auch Höhenangst ist die Expositionstherapie“, sagt der Psychologe. „Das heißt, man setzt sich in Begleitung einer Therapeutin oder eines Therapeuten dem angstauslösenden Reiz aus und erlebt, dass eben nicht die erwartete Katastrophe eintritt, dass die Spinne einen also nicht beißt oder anspringt und nirgendwo hineinkrabbelt.“ Die Betroffenen trauen sich am Beginn der Therapie vielleicht nur, die Box mit der Tarantel aus der Ferne anzusehen. Doch irgendwann gelingt es ihnen, sich ihr zu nähern und das Behältnis sogar zu berühren. Diese Strategie hilft dem Großteil der Patient*innen.
„Es ist aber noch immer Verbesserungspotenzial da“, sagt Zlomuzica. So gibt es einige Patient*innen, die aus ungeklärten Gründen nicht von der Expositionstherapie profitieren. Andere besiegen ihre Angst zwar während der Therapie, fürchten sich aber immer noch, wenn ihnen die Spinne im eigenen Keller begegnet. Oder die Angst scheint bewältigt, kehrt aber irgendwann wieder zurück.
Charakteristisch für Angststörungen
„Wir wollen deswegen besser verstehen, welche Lernmechanismen diesen Angststörungen zugrunde liegen, und herausfinden, ob es zusätzliche Strategien gibt, die die Wirkung und Nachhaltigkeit der Therapie unterstützen“, so Zlomuzica. Lernen und Gedächtnis sind dabei Aspekte, die die Forschenden interessieren, weil bei Angststörungen Gelerntes schwer verlernbar scheint: Ein ursprünglich neutraler Reiz – die Spinne oder auch die Höhe – wird mit etwas Negativem verknüpft, das nie eintritt. Doch die Erfahrung, dass die Spinne nicht beißt oder man nicht in Ohnmacht fällt, wenn man einen hohen Turm besteigt, führt nicht dazu, dass diese gelernte Verknüpfung aufgelöst wird. „Das Umlernen scheint bei Angstpatient*innen defizitär zu sein“, berichtet Armin Zlomuzica aus seinen Studien. „Das scheint ein generelles, charakteristisches Merkmal von Angststörungen zu sein.“
Um die Therapie erfolgreicher und nachhaltiger zu machen, untersuchen die Forschenden im Sonderforschungsbereich Extinktionslernen die Effekte verschiedener begleitender Maßnahmen. Ein Ansatzpunkt dafür ist die Selbstwirksamkeit. „Es ist ein gutes Gefühl, wenn wir merken, dass wir eine Aufgabe selbstständig bewältigt haben“, erklärt Zlomuzica. „Dieses Gefühl können wir nutzen, um die Interventionen der Expositionstherapie wirksamer zu machen.“
Das gute Gefühl, etwas aus eigener Kraft bewältigt zu haben
Der Trick: Wenn die Angstpatient*innen in der Therapie die Erfahrung gemacht haben, dass sie die Konfrontation mit der Spinne oder der Höhe überstanden haben, ohne dass etwas Schlimmes dabei passiert ist, wird ihre Erwartung verletzt und sie haben erfahren, dass sie die Situation aushalten können. Denn sie hatten ja die Katastrophe kommen sehen. Wenn das Therapieteam diese unerwartete Erfahrung der Selbstwirksamkeit stärkt, das gute Gefühl, die Situation aus eigener Kraft bewältigt zu haben, fördert und aktiviert, schneiden die Patient*innen in einer erneuten Konfrontation mit dem angstmachenden Reiz besser ab als ohne diese Aktivierung der Selbstwirksamkeit.
„Wir haben den Effekt der Selbstwirksamkeitssteigerung auch in Experimenten ohne den Angstbezug nachweisen können“, berichtet Armin Zlomuzica. Dabei steigerten die Forschenden bei einer Gruppe von Versuchspersonen die Selbstwirksamkeit während einer Aufgabe durch erfundenes Feedback. „Wir haben dieser Gruppe zum Beispiel während einer stressigen Aufgabe die Rückmeldung gegeben, dass sie zu den fünf Prozent der stressresistentesten Menschen überhaupt gehören“, erzählt der Forscher. In einem anschließenden Extinktionslernen-Experiment, bei dem es darum ging, Gelerntes wieder umzulernen, schnitt diese Gruppe besser ab als eine Vergleichsgruppe, die kein solches Feedback erhalten hatte. Da man die Selbstwirksamkeit gut über verschiedene Quellen fördern kann – sei es durch eine Erfahrung oder durch verbale Bestätigung – schreibt das Forschungsteam dieser Strategie ein großes Potenzial für die Therapie zu.
Auch andere Strategien setzen darauf, kognitive Prozesse zu beeinflussen, um das Verlernen der Angst zu verbessern. Prof. Dr. Marcella Woud, die von der Ruhr-Universität Bochum im Herbst 2023 als Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie und Experimentelle Psychopathologie an die Georg-August-Universität Göttingen gewechselt ist, arbeitete in einer Studie mit 80 Patient*innen, die unter Höhenangst litten. Auch hier basierte die Expositionstherapie auf der Erwartungsverletzung, also der Erfahrung, dass die individuelle Befürchtung der Patient*innen beim Erreichen großer Höhe nicht eintritt. Die Teilnehmenden der Studie bestiegen gemeinsam mit ihren Therapeut*innen den 60 Meter hohen Turm des Deutschen Bergbaumuseums in Bochum und erlebten, dass sie eben nicht in Ohnmacht fielen oder hinabstürzten.
Gemeinsam mit ihren Therapeutinnen und Therapeuten bestiegen Teilnehmende einer Studie den 60 Meter hohen Turm des Deutschen Bergbaumuseums in Bochum und erlebten, dass nichts, das sie befürchtet hatten, eintrat.
Um diese Erfahrung zu festigen, setzten die Forschenden bei der Hälfte der Teilnehmenden das sogenannte "Cognitive Bias Modification – Interpretation Training" ein. Dahinter verbirgt sich ein computergestütztes Training, bei dem die Teilnehmenden auf die Höhensituation bezogene mehrdeutige Sätze vervollständigen und somit deren Ambivalenz auflösen und die beschriebene Situation zu einem guten Ausgang führen. Ein Trainingssatz lautet etwa: „Du stehst in einem Einkaufszentrum am Geländer im dritten Stock. Als du nach unten schaust, realisierst Du, dass das Geländer nur bis zu Deiner Hüfte reicht. Du weißt, ein Sturz ist … unwahrscheinlich.“ Oder: „Du isst auf der Dachterrasse eines Restaurants zu Abend. Um zu Deinem Tisch zu gelangen, musst Du ganz nah an den Rand des Daches gehen. Du näherst dich dem Rand und fühlst dich … gelassen.“ Zum Vergleich wurde der anderen Hälfte der Teilnehmenden eine Placebo-Aufgabe am Computer gestellt.
Den kognitiven Tunnelblick weiten
Sofort nach dem Experiment und einen Monat später ermittelten die Forschenden durch diverse Fragebögen und Tests, wie gut die therapeutische Intervention gewirkt hatte. „Direkt nach der Expositionstherapie war die Höhenangst bei allen Teilnehmenden niedriger als vor der Therapie. Zudem wurde gefunden, dass die Gruppe, die am aktiven Training teilgenommen hatte, direkt nach dem Training von weniger höhen-ängstlichen Interpretationen berichteten als Teilnehmende aus der Placebo-Gruppe“, berichtet Marcella Woud. Die Teilnehmenden stimmten typischen Aussagen wie „Höhe ist gefährlich“ oder „Die Brücke wird einstürzen“ oder „Meine Angst ist unkontrollierbar“ weniger zu als die Teilnehmenden der Placebo-Gruppe. Die Daten aus dem Test einen Monat nach dem Experiment werden zurzeit ausgewertet, und Nachfolgestudien zu diesem Thema sind geplant.
„Wir wollen zum Beispiel herausfinden, wann man so ein Training idealerweise anbietet – vor einer Konfrontation mit der angstauslösenden Situation oder nachher? Wann ist der günstigste Zeitpunkt, den kognitiven Tunnelblick zu weiten?“, erklärt Marcella Woud. Die Forschenden können sich vorstellen, dass eine solche kognitive Maßnahme auch helfen könnte, die Patient*innen dazu zu bringen, sich überhaupt auf die Konfrontation mit der Angstsituation einzulassen. Denn Umfragen aus den USA sowie Deutschland haben erwiesen, dass nur wenige Therapeutinnen und Therapeuten die Expositionstherapie überhaupt anbieten, unter anderem deswegen, weil viele Patient*innen im letzten Moment doch nicht bereit sind, sich der angstmachenden Situation auszusetzen oder weil Therapeut*innen denken, diese Intervention belaste ihre Patient*innen zu sehr.
„Die kognitive Komponente nimmt einen großen Einfluss auf Lernprozesse, und wir wollen sie besser verstehen und nutzen lernen“, sagt Armin Zlomuzica. Im Sonderforschungsbereich legen die Forschenden dafür die Basis. „Die Translation, also der Transfer in die therapeutische Praxis, muss noch einmal gesondert erforscht werden“, sind Zlomuzica und Woud überzeugt. Gelingt sie, könnten nicht nur Menschen mit Spinnen- oder Höhenangst davon profitieren, sondern auch mit komplexeren Beschwerdebildern wie Traumafolgen oder Panikstörungen.
Quelle: https://news.rub.de/wissenschaft/2024-11-12-psychotherapie-der-angst-ins-auge-blicken
Literatur