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Chronobiologie: Die meisten stehen zu früh auf und leiden unter Lichtmangel

Das Läuten des Weckers bringt uns zwar auf die Beine; die Schläfrigkeit jedoch kann es oft genug nicht vertreiben. Worauf es ankomme, seien »Licht und unsere Gene«, sagt Dieter Kunz. »Diese zwei Dinge bestimmen vor allem, wann wir wach und aktiv werden.«

Kunz ist Chefarzt der Abteilung für Schlafmedizin am Berliner St. Hedwig-Krankenhaus. Sein Fachgebiet ist die Chronobiologie, die Lehre von der inneren Uhr. Und die untersucht Kunz gerade in der Schule. Acht Klassenräume der Königin-Luise-Stiftung in Berlin-Dahlem hat der Wissenschaftler zu Labors erklärt. Vier der Klassen sind mit »biologisch optimierten« Deckenlampen ausgerüstet. Sie gleichen sich automatisch den im Tageslauf wechselnden Lichtverhältnissen an; zudem strahlen sie heller und in anderen Farbtönen als konventionelle Lampen. Nach sechs Monaten wird verglichen: Welche Schüler haben in Mathe mehr gelernt - jene mit den neuen Lampen oder jene in den anderen Klassen?

Kunz ist überzeugt, dass besseres Licht die Lernleistung positiv beeinflusst, nicht nur bei Schülern. Viele Häuser, Büroräume und U-Bahnen seien zu dunkel, sagt der Mediziner. Einmal stattete er zehn seiner Studenten mit sensorgespickten Brillengestellen aus und schickte sie durch einen normalen Werktag. Die Brillen maßen die Lichtmenge, die am Auge ankam: durchschnittlich nur 50 Lux. »Da merkt man ja gar nicht, dass der Tag schon begonnen hat«, sagt Kunz. Deshalb hilft er den müden Schülern jetzt nach: Wenn es im Winter draußen noch stockdunkel ist, strahlen 500 Lux von der Decke, viel stärkeres Licht als üblich.

Doch nicht allein die Intensität des Lichts beeinflusst unsere Munterkeit, sondern auch seine Farbe. Anfang des Jahrzehnts erst entdeckten britische und US-amerikanische Forscher auf der Netzhaut neben Stäbchen und Zapfen eine dritte Rezeptorenart. Diese Zellen reagieren hauptsächlich auf blaues Licht von 480 Nanometern Wellenlänge. Sie senden Reize an den sogenannten Suprachiasmatischen Nucleus (SCN). Dort sitzt die Steuerzentrale unserer inneren Uhr, nur wenige Zentimeter hinter dem Nasenrücken. Der SCN dirigiert Stoffwechsel, Körpertemperatur und Gehirnaktivität des Menschen im 24-Stunden-Rhythmus. Blaues Licht hemmt dabei die Ausschüttung des Müdigkeitshormons Melatonin und macht uns binnen kurzem wach. Deshalb strahlt es in Kunz’ »biologisch optimierten« Modellklassen bläulich weiß von der Decke - nicht gelblich funzelig wie sonst.

Mit einem ähnlichen Versuchsaufbau hatte schon der Hamburger Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort die kurzfristigen Effekte biologisch optimierten Lichts an 116 Schülern getestet: Ihre Lesegeschwindigkeit stieg um 35 Prozent, ebenso zeigten sie sich signifikant aufmerksamer. Kunz’ Langzeitstudie dauert zwar noch bis Mitte nächsten Jahres. Doch schon heute glaubt der Chronobiologe: »Das Einzige, was wir falsch machen können, ist, das Licht so zu lassen, wie es heute üblicherweise ist.«

Ebenfalls im Berliner Westen versucht man in einer Dynamofabrik, dem aufreibenden Rhythmus der Schichtarbeit besser zu begegnen. Denn wenn die Männer des Siemenswerks in Spandau ihre Nachtschicht beenden und morgens um sechs die Schweißgeräte aus der Hand legen, die Blaumänner ausziehen und die rote Backsteinhalle verlassen, dann blinzelt ihnen die Sonne entgegen - ein Weckruf für jeden Organismus. Bloß brauchte der jetzt dringend nächtliche Ruhe.

Umgekehrt überfordert es den Körper, wenn er nachts wach und leistungsfähig sein muss, während der Biorhythmus eigentlich nach Schlaf verlangt. Deshalb leidet die Mehrheit aller Schichtarbeiter unter Schlafstörungen, Magenbeschwerden und innerer Unruhe. Zudem haben sie ein höheres Risiko für Herzerkrankungen, Bluthochdruck und sogar Krebs. Schichtarbeiter sind aber nicht nur häufiger krank; Unausgeschlafene machen auch mehr Fehler. Und damit wird die Sache auch für die Betriebe zu einem Kostenfaktor.

Deshalb suchte Siemens Hilfe beim Münchner Chronobiologen Till Roenneberg. Seit über fünf Jahren vermisst er die Aktivität der Spandauer Arbeiter und lässt sie Schlaftagebücher führen: Wie sind Sie heute aufgewacht? Mit Wecker oder ohne? Fühlen Sie sich ausgeschlafen? Bei rund 320 Schichtarbeitern ermittelte Roenneberg bislang den individuellen inneren Rhythmus von Schlafen und Wachen, den »Chronotypus«.

Zwar wird das Pendel der inneren Uhr bei uns allen hauptsächlich vom Sonnenlicht angestupst, aber eben bei jedem Einzelnen zu einem anderen Zeitpunkt. Manche sind früh aufstehende »Lerchen«, andere nachtaktive »Eulen«. Und dazwischen gibt es unzählig viele Abstufungen. Deshalb plädiert Roenneberg für »Schichtarbeit nach Chronotyp«. Frühtypen sollten eher morgens, Spättypen vermehrt am Abend arbeiten. Kommendes Jahr soll dies in einem Pilotprojekt erprobt werden. Dazu teilt der Schlafforscher im Siemenswerk Freiwillige in drei Gruppen ein: Früh-, Spät- und Normaltypen. Anhand seiner Messungen ermittelt Roenneberg dann für jeden Teilnehmer die ideale Schicht. Freiwillige gibt es genug, nur der Betriebsrat beäugte das neue Arbeitsmodell zunächst skeptisch: Er fürchtete, dadurch könnten Nacht- und Frühzuschläge wegfallen. Am Ende ließ er sich aber von den Vorteilen des Projekts überzeugen.

Bei vielen Zeitgenossen passen der Takt des Alltags und jener der inneren Uhr nicht zusammen. Till Roenneberg hat mittlerweile rund 100.000 Menschen per Onlinefragebogen nach ihren Schlaf- und Wachzeiten befragt. Ergebnis: Die innere Uhr hängt bei den meisten Deutschen hinterher. Fast niemand wacht mehr ohne Wecker auf; Schul- und Arbeitszeiten beginnen generell zu früh - und führen zu chronischem Schlafmangel. »Alle Arbeitszeitmodelle stehen auf dem Prüfstand«, sagt der Chronobiologe, »hier geht es um einen Kulturwandel.«

Klar jedoch ist: Wer richtig wach sein will, muss zunächst einmal gut schlafen - und dem kann man auch durch entsprechende Beleuchtung nachhelfen. Blaues Licht wirkt eben nicht nur tagsüber aufmunternd, sondern auch abends vor dem Schlafengehen. Die blauen Wellenlängen von iPod und Laptop können das Einschlafen verzögern, ja sogar den erholsamen Schlaf stören. Beruhigend wirkt hingegen dunkleres Licht mit hohem Rotanteil. Davon werden die Wach-Rezeptoren auf der Netzhaut nicht angeregt, sodass der Körper ungestört Melatonin ausschütten und uns müde machen kann. Und das ist die beste Voraussetzung für einen wachen nächsten Tag.

 

Literatur zum Thema:
Chronobiology and Chronopsychology
Baudson, T.G.; Seemüller, A.; Dresler, M. (Eds.)




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