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Biographische Diagnostik: aussagefähig, anspruchsvoll und sträflich vernachlässigt

Biographische Diagnostik eröffnet in allen Bereichen der angewandten Psychologie reichhaltige Einsichtsmöglichkeiten, die in der realen Praxis nur selten genutzt werden. Gerd Jüttemann (Berlin) legt einen Aufsatzband vor, in dem 37 AutorInnen aus ihrer jeweiligen Subdisziplin die Potenziale der Biographischen Diagnostik reflektieren und konkretisieren.

Pia Neiwert, Schülerin des deutsch-amerikanischen Psychologen Otto Laske, postuliert in ihrem Beitrag zur Personalbeurteilung: "Kompetent zu sein ist nicht genug. Auf die Entwicklung kommt es an." Die Diagnostikerin achtet darauf, welchen Reifegrad ein Erwachsener erreicht hat. Grob skizziert - sieht Neiwert drei Phasen, die Menschen früher oder später durchlaufen:

  • Denken: Zunächst entwickelt sich logisches Denken, daraus resultieren Ansätze dialektischen Denkens, und schließlich bilden sich logisches wie dialektisches Denken voll aus.
  • Wissen: Zunächst scheint Wissen absolut, klar und peergroup- bzw. autoritätsbezogen; allmählich wächst die Erfahrung, dass Wissen unsicher bleibt, relativ und kontextbezogen; schließlich wird Wissen aktiv konstruiert, relativiert, kontextbezogen betrachtet - und bleibt offen für neue Einschätzungen.
  • Entscheiden: Zunächst orientieren sich Entscheidungen relativ klar an Fakten und an Meinungen der Peergroup bzw. der Experten; später fließen zusätzlich eigene, persönliche Einschätzungen mit ein; in der dritten Phase wird die Entscheidungsfindung komplexer und eher systemisch, weil Alternativen und potentielle Gegenargumente mit einbezogen werden.

Neiwert: "Sowohl der sozial-emotionale als auch der kognitive Entwicklungsstand können mit einem qualitativen halbstrukturierten Interview bestimmt werden." Hier "wird beleuchtet, wie eine Person sich im Alltag und im Berufsleben Bedeutung erschließt und bis zu welchem Grad sie in der Lage ist, eine Theorie von sich und den sozialen Beziehungen zu entwickeln ... In der Auswertung wird zunächst der Entwicklungsschwerpunkt ermittelt. In einem zweiten Schritt werden a) Aussagen dazu getroffen, wie groß die Tendenz ist, in schwierigen Situationen in frühere Entwicklungsphasen zurückzufallen, und b) welches Entwicklungspotenzial sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt zeigt.

Geht es darum, den richtigen Mitarbeiter für eine Führungsposition zu finden, lassen der kognitive Fluiditätsgrad sowie der sozial-emotionale Entwicklungsstand Aufschluss darüber zu, welchen Komplexitätsanforderungen ein Mensch momentan gewachsen ist ..."

Gerd Jüttemann hebt hervor: "Eine Entwicklung eines Menschen zu diagnostizieren, geschieht einerseits auf dem Weg, Messungen durchzuführen. Das setzt aber in der Regel einen linear verlaufenden Veränderungsprozess voraus. Inhaltliche und strukturelle Entwicklungen sind demgegenüber nicht messbar. Sie müssen qualitativ-intuitiv erfasst werden und repräsentieren zugleich eine besonders anspruchsvolle Form von Diagnostik ... Es gilt, diesen Zugang zum Gegenstand der Psychologie stärker als bisher zu beachten - möglicherweise sogar mit der Aussicht, Erkenntnisquellen aufzuspüren, die noch gar nicht entdeckt worden sind ..."


Biographische Diagnostik
Jüttemann, Gerd (Hrsg.)




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