Angela Merkel hat sich im Gespräch mit Anne Will darauf konzentriert, die Herausforderungen und Chancen der Flüchtlingspolitik zu benennen und auf Lösungen zu drängen. Gezielte Antworten an Kritiker blieben aus, obwohl deren Argumente leicht zu entkräften wären:
- Immer wieder ist von einem "Staatsversagen" die Rede. Dies ist falsch. In Wahrheit versagen große oder kleine Teile unserer Sicherheitsbehörden. Die Silvesterereignisse in Köln sind nur ein Beispiel. Mehr als 1000 Anschläge auf Asylantenunterkünfte hat die Polizei 2015 nicht verhindert; und kaum 20 Prozent dieser Straftaten hat sie aufgeklärt; wieviel Rechtsblindheit, wieviel Unfähigkeit, wieviel Gleichgültigkeit, wieviel Bequemlichkeit spielen hier eine Rolle?
- Einige Behörden haben lautlos, professionell, ideenreich und unbürokratisch für Asylanten gearbeitet. Andere Teile des öffentlichen Dienstes besitzen kaum die Motivation, noch Qualifikation, die ungewohnte Arbeitsüberlast zu bewältigen; zuständige Personalräte besaßen dann allerdings genügend Zeit, sich öffentlichkeitswirksam zu beschweren.
- Was kostet die Versorgung der Flüchtlinge? Inzwischen werden Geldsummen diskutiert, die einigen Verdacht aufkommen lassen: Wählen diverse öffentlich Bedienstete den für sie bequemsten Weg der Unterbringung? Und: Sehen Hausbesitzer jetzt die Chance, aus dem Mangel an geeigneten Unterkünften überproportionales Kapital zu schlagen?
- Anne Will fragte die Kanzlerin, ob es ihr bewusst sei, dass die Flüchtlingspolitik die Gesellschaft gespalten habe. Die Frage ist vom Ansatz her falsch; richtig ist, dass die Flüchtlingsproblematik die vorhandenen Stimmungen, Spannungen und Spaltungen hat offensichtlicher werden lassen. Wir wissen seit eh, dass etwa 15 Prozent der Bevölkerung nationalistisch-fremdenfeindlich denken und weitere etwa 15 Prozent für nationalistisch-fremdenfeindliches Gedankengut empfänglich sind. Die Einwanderung der Asylanten aktiviert die vorhandenen rechtspopulistischen Ambitionen und kommt Parteien wie CSU bzw. AfD zugute, schadet jedoch der CDU, die über lange Zeit darauf beharrt hat, Deutschland dürfe kein Zuwanderungsland werden.
- Wir wissen, dass in Deutschland generell die Kriminalitätsfurcht immer wesentlich größer ist als das tatsächliche Kriminalitätsrisiko; diese Dynamik nimmt mit der Zuwanderung hunderttausender fremdländischer junger Männer zu und aktiviert viele Ängste. Und: Insbesondere in wirtschaftlich benachteiligten Schichten lösen die neuen, zusätzlichen Empfänger staatlicher Sozialleistungen aversive Emotionen aus. Die Stimmungen werden sich nach einer Gewöhnungsphase auf eine Art "Normalmaß" reduzieren.
Anne Will wollte wissen, ob die Kanzlerin bei ihrem "Wir schaffen es" bleibt. Die Antwort war ein klares, energisches Ja. Die Christin tut, wie sie es immer wieder formuliert, nur ihre "verdammte Pflicht und Schuldigkeit". Eine rationale Begründung fehlte, läge jedoch nahe: Wir sind in der Schuld der Entwicklungs- und Schwellenländer, unser behaglicher Wohlstand wird teilweise dort erarbeitet; wir verkaufen in die betroffenen Länder hoch- und höchstpreisige Güter, Waffen z.B.; im Gegenzug kaufen wir Waren, hergestellt zu Hungerlöhnen und bezahlt mit Niedrigpreisen. Das Handelsungleichgewicht trägt zu den sozial und politisch desaströsen Verhältnissen der betroffenen Länder wesentlich bei ...
Wolfgang Pabst