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rausch · Wiener Zeitschrift für Suchttherapie

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2012-2

Editorial
Martin Poltrum

Nüchterne Trunkenheit und drogenfreie Ekstase. Der Rausch als Therapeutikum der Sucht bei Nietzsche und Platon
Martin Poltrum

Rausch und Ekstase - Hermann Nitsch im Gespräch mit Michael Musalek, Martin Poltrum und dem Kollegium des Anton-Proksch-Instituts

Bildstrecke:
Das Orgien Mysterien Theater Hermann Nitschs

Bildstrecke:
gabarage upcycling design

"Soziale Plastik" heute. Berufliche Rehabilitation ehemals Suchtkranker
Daniel Strobel

Kinder alkoholkranker Eltern im Beratungskontext
Alexandra Puhm

Suchtbegriff und Psychiatrische Lehrmeinung
Bert Kellermann

Einschlägige Personen. Ein Film über Sucht von Johannes Suhm
Irene Schmutterer

Gedichte der anderen Art
Einsinn (Pseudonym)

Nachrichten

 


Editorial

Der österreichische Künstler, Ausstellungskurator, Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel, der in den 60er Jahren international viel beachtete Performances und Happenings inszenierte, hat in seinem Buch "Lebenssehnsucht und Sucht" (2002) auf sehr treffende Weise beschrieben, warum es zu Suchtentwicklungen kommen kann. Weibels Kurzformel: "Wo das Leben selbst eine Entziehungskur ist, gedeiht der Boden für die Sucht. Wo die Lebenssehnsucht nicht gesättigt wird, füllt die Drogensucht den leeren Raum." (ebd., 32) Demgemäß ließe sich im Vorfeld einer Suchtentwicklung zweierlei konstatieren. Erstens die Wahrnehmung der Lebenssehnsucht, und zweitens die Unfähigkeit, die Lebenssehnsucht anders zu stillen als durch Suchtmittel oder suchtartiges Verhalten. Wer also keine Lebenssehnsucht hat, oder das Fehlen der unerfüllten Sehnsucht nicht wahrnimmt, der wäre nicht suchtanfällig. Damit ist der Süchtige bzw. Suchtgefährdete, gemäß dieser neoromantischen These, einerseits sensibler als der Durchschnittsmensch - der unter Umständen nicht einmal merkt, dass sein Herz längst verknöchert ist und kaum mehr Blut in seinen Adern pulsiert, dem nicht einmal auffällt, dass längst alles vertrocknet, spröde und leer in seinem Leben ist, der im schlimmsten Fall nicht einmal registriert, dass sein Leben nicht mehr lebt und sich längst im Verfallsmodus des Anonymen "man"  (Heidegger 1927) vollzieht - andererseits wäre der Süchtige, der wahrnimmt, dass etwas Elementares fehlt, aber auch unfähig geeignete Mittel zu finden und zu erfinden, um seine Lebenssehnsucht anders als durch die kurzfristige und gefährliche Flucht in "künstliche Paradiese" zu stillen. Wenn Peter Weibel mit seinem Zusammenhang zwischen Lebenssehnsucht und Sucht recht hat - wovon wir ausgehen - dann hieße das, dass ein berauschendes Leben, ein Leben, das die nüchterne Trunkenheit und drogenfreie Ekstase kultiviert, vor süchtigen Entgleisungen schützt. Aus diesem Grund und auch weil wir eine Zeitschrift herausgeben, die rausch heißt, was auch suggerieren soll, dass es nicht nur die böse Sucht gibt, sondern auch gute Rauscherfahrungen, die für das Leben elementar sind, thematisieren wir in den ersten beiden Beiträgen dieser Ausgabe die Phänomene des Rausches und der Ekstase von ihrer nichtpathologischen Seite her. Im ersten Beitrag wird gezeigt, dass man sich in guter Gesellschaft befindet, wenn man in schwärmender Manier über den Rausch nachdenkt, haben doch keine geringeren wie Platon und Nietzsche schon darüber räsoniert. Mit dem Wiederabdruck des zweiten Beitrags, der in der ehemaligen "Wiener Zeitschrift für Suchtforschung" schon einmal erschienen ist, stellen wir eine ganz besondere Perle zur Verfügung. Michael Musalek, das therapeutische Team des Anton-Proksch-Instituts und ich sprachen am 28. Mai 2008 im Rahmen einer internen Fortbildungsveranstaltung mit Hermann Nitsch über Kunst, Rausch, Ekstase, Therapie und Sucht. Viele fruchtbare Einsichten, die im abgedruckten Interview bleibend erhalten sind, bestätigen auch von künstlerischer Seite die Wichtigkeit einer unserer therapeutischen Leitideen im Anton Proksch Institut: Der Mensch ist ein Gesamtkunstwerk. Hermann Nitsch meinte in dem Gespräch, als wir auf die Rolle der Kunst und Ästhetik für die Therapie zu sprechen kamen: "Wenn ich so eine Klinik leiten müsste, (...), ich würde die Leute sehr in die Gasse der Kunst führen."

In die Gasse der Kreativität führen wir unsere Patienten mit Bestimmtheit, das wird im dritten Beitrag von Daniel Strobel sichtbar. Gerade im Fall von Patienten mit Suchterkrankungen kann die Behandlung nicht mit dem Ende des Klinikaufenthaltes und der ambulanten Nachbetreuung enden, da das Thema Arbeit und Beruf sehr oft eine weitere unsanierte Baustelle im Leben ehemals Süchtiger darstellt. Wie soziale Verantwortung, berufliche Rehabilitation, ökologische Nachhaltigkeit und Design zusammengehen, wird durch die Vorstellung des sozialökonomischen Betriebes gabarage - upcycling design gezeigt, in dem ehemals Suchtkranke auf den Wiedereinstieg in den Regelarbeitsmarkt vorbereitet werden. Neben Beruf und Arbeit sind leider auch die Schwächsten unserer Gesellschaft in den zerstörerischen Sog einer Suchtentwicklung hineingezogen - die Kinder suchtkranker Eltern. Alexandra Puhm, die sich seit vielen Jahren mit Suchtpräventionsforschung beschäftigt und seit fünfzehn Jahren mit Kindern suchtkranker Eltern arbeitet, berichtet im Artikel - Kinder alkoholkranker Eltern im Beratungskontext - von ihren Erfahrungen.

Im fünften Beitrag thematisiert Bert Kellermann, der auf jahrzehntelange Erfahrungen als Psychiater und Suchttherapeut zurückblickt, die gesellschaftlichen Veränderungen im Umgang mit Sucht und spricht von einem explosionsartigen Anstieg der Suchterkrankungen. Den Hauptfokus seiner Analyse widmet er dabei den Ungereimtheiten bzw. Problemen der Diagnostik des Abhängigkeitssyndroms in der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation.

Irene Schmutterer, die Chefredakteurin von rausch, bespricht in ihrem Beitrag auf sehr berührende Weise eine eben erschienene DVD mit dem Titel "Einschlägige Personen - Ein Film über Sucht von Johannes Suhm. (Bonn 2012)." Drei Personen berichten über ihren Weg in und aus der Sucht. Als Bonusmaterial auf der DVD erzählt eine ältere Frau (die Großmutter Johannes Suhms) von ihrem verstorbenen Ehemann, der als Traumatisierter aus dem zweiten Weltkrieg zurückkam und eine Alkoholabhängigkeit entwickelte - leider auch der gemeinsame Sohn des Paares. Prädikat des Filmes: sehr sehenswert.

Unter dem Pseudonym Einsinn veröffentlichen wir zum Ausklang ein paar Gedichte eines Patienten, der im Frühjahr 2012 stationär im Anton-Proksch-Institut aufgenommen war. Wahrscheinlich sollten wir das in Zukunft weiterführen, dass hin und wieder auch Patienten in rausch zu Wort kommen. Denn nur dann wird das Phänomen Sucht in seiner ganzen Spannbreite behandelt.

Der Sommer ist angebrochen, die Röcke werden kürzer (ja gut Irene, auch die Hosen), in der Luft fliegen Pollen und Samen, die Leute sehen sich wieder in die Augen, neurotisches Gedankenkreisen weicht erotischer Naturinspiration. Badewetter, Melonen, Urerlaubnis - hin und wieder ein sanftes Räuschlein!? - alles ist entspannt. So soll es sein. Wir wünschen einen schönen Sommer und viel Freude mit dieser Ausgabe.

Herzlichst
Martin Poltrum


Dr. Martin Poltrum
Koordinator der Akademie des Anton Proksch Instituts
Philosoph und Psychotherapeut
www.philosophiepraxis.com
martin.poltrum@api.or.at

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