Nedopil und Kollegen "haben nicht selten erlebt, dass der Diagnose des Gutachters allzu gutgläubig gefolgt - und z.B. eine Minderbegabung (Schwachsinn nach §20 StGB) fälschlicherweise angenommen wurde, so dass therapeutischer Nihilismus den Umgang mit dem Betroffenen bestimmte, aber auch, dass zunehmende kognitive Beeinträchtigungen übersehen und Patienten mit der Therapie überfordert wurden.
Eine eigene diagnostische Urteilsbildung der Klinik meint dabei nicht, dass bei jedem Patienten eine umfassende Standard-Testbatterie zum Einsatz kommen soll. Die diagnostische Abklärung sollte allerdings immer hypothesengeleitet durchgeführt und somit auf die individuelle Fragestellung abgestimmt werden. So sollte z.B. nur bei einer fraglichen kognitiven Beeinträchtigung eine umfassende neuropsychologische Abklärung erfolgen
Die erste Risikoeinschätzung sollte getrennt für intramurale und extramurale Zwischenfälle durchgeführt werden. In der Regel wird mit der Beurteilung des Risikos intramuraler Zwischenfälle begonnen, um Gefährdungen von Personal und Mitpatienten vorzubeugen. Wenn sich beim Screening ein hohes Risiko für gewalttätiges Verhalten abzeichnet, sollte relativ rasch eine umfassende Risikoeinschätzung erfolgen und ein Plan für das intramurale Risikomanagement erarbeitet werden. Die erste Risikoeinschätzung ist dann auch Ausgangspunkt für die Verlaufsdokumentation und für die Änderung des Risikoprofils im Verlauf der Behandlung ..."
Norbert Nedopil, Jérôme Endrass, Astrid Rossegger, Thomas WolfPrognose: Risikoeinschätzung in forensischer Psychiatrie und Psychologie
Ein Handbuch für die Praxis
Pabst: 2021, 368 Seiten, Hardcover