Martin Brüne und Wulf Schiefenhövel argumentieren in ihrem Beitrag zum einen, dass im Kontext von Krankheit das Bedürfnis nach dem Verstehen des eigentlich Unverstehbaren wächst. "Des Weiteren scheinen die Teilhabe an religiösen Ritualen und das Einhalten eines religiös untermauerten Regelwerks das grundlegende Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit zu unterstützen."
Reinhard Zinke kritisiert in der weit verbreiteten Diagnostik: "Unverstanden bleibt oft die religiöse und spirituelle Ausrichtung des Patienten. Dies ist umso erstaunlicher, da sie eine reichhaltige Dimensionalität in sich trägt, die die persönliche Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen zwischen Geborgenheit und Angst, Autorität und Autonomie, gestalteter und verdrängter Emotionalität zeigt. Sehnsüchte, Gruppendruck, Zusammengehörigkeitsgefühle, Ideale, aber auch narzisstische Vereinseitigungen spiegeln sich in unterschiedlicher Intensität. Erleichtert wird die Exploration von Religion und Spiritualität dadurch, dass die therapeutische Haltung über weite Strecken nicht die ´objektive Wahrheit´ der spirituellen Praxis oder Philosophie eines Menschen beurteilt, sondern in der Grundhaltung von ´Wertoffenheit und Bedachtsamkeit´ deren Auswirkungen verstehen will. Das resonant engagierte und unaufdringliche Verstehen-Wollen wird angestrebt, keine wie auch immer gearteten Urteile ...
Das unvoreingenommene Interesse und engagierte Verstehen-Wollen eröfnet dem Therapeuten die Eigenwelt des Patienten. Ist die Frage nach der Religion einmal freundlich interessiert gestellt, erleben Patienten dies oft als wertschätzendes Annehmen ihrer persönlichen Geschichte. Dies gilt auch dann, wenn zur religiösen Erfahrung Machtmissbrauch und Unterdrückung gehört haben ..."
Juckel, Georg; Hoffmann, Knut; Walach, Harald (Hrsg.): Spiritualität in Psychiatrie & Psychotherapie
Pabst, 2018, 412 Seiten, Paperback