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Psychologie & Gesellschaftskritik

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Mehr als ein Jahrhundert Autogenes Training: die Historie kritisch und anschaulich dokumentiert

Das Autogene Training hat sich als Stressbewältigungstechnik und als Basis- Psychotherapie weltweit etabliert. Es stärkt die biopsychosoziale Gesundheit - und damit die Selbstbestimmung des Einzelnen. Die mehr als hundertjährige Entwicklung des Autogenen Trainings beeindruckt mit Dynamik und Erfolgen. Dipl.-Psych. Björn Husmann (Bremen) hat zur Historie eine Text- und Bild-Dokumentation zusammengestellt, die sich auch als spannungsreiche deutsche Psychotherapie-Geschichte im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen lesen lässt.

Der 36jährige Psychotherapeut und Psychiater J. H. Schultz experimentierte 1920 in Jena mit prophylaktischer Ruhehypnose; seine Probanden zeigten trotz unterschiedlicher Individualitäten charakteristische Gemeinsamkeiten: Fast durchgängig wurden körperliche Schwere- und Wärmeempfindungen berichtet.

"Das Ergebnis war, dass Praktizierende mit etwas Übung nahezu die gleichen körperlich-seelischen Effekte selbst hervorrufen konnten wie bei Ruhehypnosen (z.B. Erholung und Regeneration). Darüber hinaus lernten sie durch regelmäßiges, systematisches Eigentraining dieser ´konzentrativen Selbstentspannung´, die Umschaltung des vegetativen Nervensystems in Richtung Tiefenentspannung (sog. trophotrope Reaktionslage) und das Erreichen meditativer Bewusstseinsprozesse zuverlässig selbst herbeiführen zu können. Die Systematisierung dieses Lernweges durch J.H. Schultz wurde in den nachfolgenden Jahren zum Autogenen Training."

 

Björn Husmann macht seine Dokumentation als Text- und Bildband und zusätzlich als Wanderausstellung zugänglich. Dabei "ist es fordernd, die wechselseitige Beeinflussung von Zeit- und Verfahrensgeschichte zu reflektieren. Aber es lohnt. Denn dadurch werden manche dem Autogenen Training zugrunde liegenden Narrative usw. bewusster und in der Entstehung verstehbar."

 

Ein Schatten fiel auf das Autogene Training, weil Schultz während der NS-Zeit als stellvertretender Direktor im Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie amtierte. "Ein Ziel des Instituts war die Entwicklung einer sogenannten ´neuen deutschen Seelenheilkunde´." Gelegentlich nutzte Schulz NS-Ideologeme und äußerte sich positiv zur Euthanasie. "Kritiker ordnen die Psychotherapie am sogenannten ´Göring-Institut´unter den Bedingungen von Erbgesundheitsgesetz und weiteren NS-Doktrinen als Teil der faschistischen Gesundheitspolitik des `Heilens oder Vernichtens´ ein und halten Schultz vor, kollaboriert und unter NS-Verhältnissen seine Karriere weiter vorangetrieben zu haben. Demgegenüber betonen v.a. ärztliche KollegInnen, dass Schultz auch im Dritten Reich psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten zu erweitern und zu etablieren half, so dass PatientInnen nicht zuletzt vor dem Zugriff der NS-Organe geschützt wurden; aus dieser Perspektive sei er ein wichtiger und maßgeblicher Protagonist bei der Professionalisierung der deutschen Psychotherapie gewesen." In den Neuauflagen seiner Bücher zum Autogenen Training und zur Progressiven Relaxation nahm Schultz keine Änderungen mit NS-Tendenz vor, seine umfänglichen Psychoanalyse-Zitate kürzte er nicht.

 

Die Dokumentation präsentiert aus dem späteren Entnazifizierungsverfahren eine Reihe von Originalschreiben, in denen Zeitzeugen Schultz im Arbeitsalltag eine durchgängige Distanz gegenüber der NS-Ideologie und ihren Funktionären bestätigen. Auch von entsprechenden Auseinandersetzungen ist die Rede. 

 

Die Originaldokumente und Bilder vermitteln mit den Fakten gleichzeitig die jeweilige Atmosphäre, in der Autogenes Training gelehrt und geübt wurde. 

Damit entzieht Husmann ebenso einer Idealisierung wie einer Verurteilung von Schultz den Boden.


Björn Husmann:Über 100 Jahre Autogenes Training
Exponate einer Ausstellung zur Geschichte der „konzentrativen Selbstentspannung“

Pabst, 2021, 190 Seiten, Hardcover, Großformat DIN A4

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