Markus Brunner und Ayline Heller
Editorial – Politisierung im Kontext DDR
Tom David Uhlig & Robin Koss
Unfriedliche Revolution. Erinnerungspolitische Auseinandersetzungen um DDR und Mauerfall.
Steffen Krüger & Alexander Degel
Der Untergang des ostdeutschen Tricksters – Eine vergleichende Kulturanalyse ost- und westdeutscher Witze vor und nach dem Mauerfall.
Anna Horstmann
Gleichberechtigung ohne Geschlechtergerechtigkeit. Weibliche Erwerbsarbeit in der DDR am Beispiel des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld.
Ayline Heller & Gero Menzel
Verarbeitungsprozesse von Nachkommen kommunistischer Holocaustüberlebender in der DDR. Ein Fallbeispiel.
Ines Grau
Ostdeutsche Migrationsnarrative: Vertragsarbeit, Mauerfall und Neuanfang – Fallrekonstruktion eines mosambikanischen Arbeitsmigranten.
Thomas Prennig
Privilegierte Außenseiter. Zum Verhältnis von Habitus und Deutungsmustern am Beispiel von Pfarrerskindern in der DDR.
Ulrich Bahrke
Ostdeutsche Prägungen in der Gegenwart. Ein Erfahrungsbericht.
Markus Brunner & Ayline Heller
Editorial – Politisierung im Kontext DDR
Tom David Uhlig & Robin Koss
Unfriedliche Revolution.
Erinnerungspolitische Auseinandersetzungenum DDR und Mauerfall
Die sogenannte Wiedervereinigung ist noch vor der Shoah und dem Nationalsozialismus für die Mehrzahl der Deutschen mittlerweile zum wichtigsten Bezugspunkt deutscher Geschichte geworden. Mit der Erzählung einer friedvollen Überwindung der ›Teilung‹ Deutschlands wird in der Öffentlichkeit immer wieder versucht, eine Gemeinschaft herzustellen. Dabei ist die Erinnerung an die DDR und den Mauerfallvon Mythenbildungen und Instrumentalisierungen geprägt, die in enger Beziehung zur Geschichte Nazideutschlands stehen. In der Bildungsstätte Anne Frank wurde 2020 versucht, mit der Ausstellung »Anderen wurde es schwindelig. 1989/90: Schwarz, jüdisch, migrantisch« eine Irritation deutscher Selbstgewissheiten über die DDR anzuregen. In diesem Artikel möchten wir Inhalte der Ausstellung mit gesellschaftstheoretischen Erwägungen ins Gespräch bringen und darüber die Schuldabwehr thematisieren, welche den zeitgenössischen Blick auf die DDR zu prägen scheint. Auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR ist das Bild einer homogenen Bevölkerung noch wirkmächtig und erschwert eine differenzierte Diskussion über die Pluralität in der DDR-Gesellschaft sowie der unterschiedlichen Konsequenzen der Maueröffnung für unterschiedliche Teile der Bevölkerung. In verzerrter Form geriet diese Fragestellung zuletzt in der feuilletonistischen Aufbereitung von Forschungsergebnissen ins Blickfeld, die eine vergleichbare Situation der Ostdeutschen heute mit der muslimischen Bevölkerung Deutschlands nahelegen. Die Plausibilität
dieses Vergleichs wird zum Schluss diskutiert.
Schlagwörter: Nation Building, Erinnerungspolitik, Rassismus, DDR
Steffen Krüger & Alexander Degel
Der Untergang des ostdeutschen Tricksters – Eine vergleichende Kulturanalyse ost- und westdeutscher Witze vor und nach dem Mauerfall
Anknüpfend an die existierende deutsch-deutsche Transformationsforschung rekonstruiert dieser Artikel die Dynamik westdeutscher Hegemonialisierungs- und ostdeutscher Subalternisierungsprozesse anhand von Witzen aus der DDR, der (alten) BRD
und der Nachwendezeit. Eine tiefenhermeneutische Analyse, die beide Witzkulturen als dialektisch aufeinander bezogen sieht, ergab folgendes:
(1) Die Naivität und Unselbständigkeit, die DDR-Bürger*innen nach der Wende vorgeworfen wurden, waren zu DDR-Zeiten Ausdruck einer subversiven Vitalität und ermöglichten Freiräume, die der Abwehr staatlicher Vereinnahmung dienten.
(2) Diese Freiräume suggerieren allerdings auch eine problematische Affinität zur Opferrolle.
(3) Im BRD-Witz dominiert demgegenüber die Tendenz, andere kleinzumachen, um eigene Versagensängste abzuwehren. (4) Durch die deutsche Vereinigung treffen diese komplementären Tendenzen in Ost und Westdeutschland zusammen und ermöglichen so die (bereitwillige) Einverleibung des Ostens in den Westen.
(5) Die subversive Vitalität, die identitätsstiftend war für viele DDR-Bürger*innen, gerät im hegemonialen Verständnis Westdeutschlands zum Stigma, das doppelt kränkend war, da es als selbst herbeigeführt erscheinen musste.
Schlagwörter: Witze, DDR, Ossi, Wessi, Kulturanalyse, Tiefenhermeneutik
Anna Horstmann
Gleichberechtigung ohne Geschlechtergerechtigkeit.
Weibliche Erwerbsarbeit in der DDR am Beispiel des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld
Bei der gesellschaftlichen Ausrichtung der DDR spielte die Gleichberechtigung von Mann und Frau eine wesentliche Rolle. Diese ließ sich nach Vorstellung der SED durch die vollständige Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt erreichen. Da die anfängliche Einbindung von Frauen auf ungelernten Stellen in den 1950er Jahren jedoch nicht ausreichte, da ausgebildete Arbeitskräfte gebraucht wurden, fand ab den 1960er Jahren mithilfe von Frauenförderprogrammen eine Verschiebung hin zur qualifizierten Berufsarbeit statt. Wie diese Bemühungen in der Praxis umsetzt wurden, wird exemplarisch am Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld dargestellt. Beispielhaft wird nachgezeichnet, dass die formale Gleichstellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht auch die Loslösung von tradierten Geschlechter- und Rollenbilder bedeutete.
Schlagwörter: Frauenarbeit, Frauenförderung, Chemieindustrie, Gleichberechtigung, DDR
Ayline Heller & Gero Menzel
Verarbeitungsprozesse von Nachkommen kommunistischer Holocaustüberlebender in der DDR. Ein Fallbeispiel
Für das antifaschistische Staatsverständnis der DDR übernahmen die zu männlichheroischen Widerstandskämpfern stilisierten Überlebenden der Konzentrationslager eine repräsentativ-konstitutive Funktion. Diese Form der Erinnerungskultur wirkte sich auf die Verarbeitungsformen der ehemaligen Häftlinge und schließlich auch auf die ihrer Nachkommen aus. Anhand der tiefenhermeneutischen Analyse eines Interviews mit dem Sohn eines Buchenwaldüberlebenden und DDR-Politikers wird die komplexe Verstricktheit individueller und kollektiver Erinnerungsprozesse sowie deren Auswirkung auf die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen in der nächsten Generation beleuchtet. Dabei zeigt sich, dass viele der Konzepte der transgenerationalen Traumatransmission auch auf die Gruppe der politisch Verfolgten übertragbar sind. Es finden sich Hinweise, dass der DDR-Kontext die Herausbildung spezifischer Verarbeitungsformen begünstigt.
Schlagwörter: Transgenerationale Traumatransmission, DDR-Kontext, Erinnerungskultur, Tiefenhermeneutik
Ines Grau
Ostdeutsche Migrationsnarrative: Vertragsarbeit, Mauerfall und Neuanfang – Fallrekonstruktion eines mosambikanischen Arbeitsmigranten
Der Beitrag fragt nach dem Platz von Vertragsarbeiter*innen in der ostdeutschen Prä und Post-Wende-Gesellschaft. Anhand der biografischen Fallrekonstruktion eines 1980 eingereisten mosambikanischen Arbeiters, der bis heute in Ostdeutschland lebt, wird exemplarisch untersucht, welche lebensweltlichen und psychischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten sich für die ausländischen Werktätigen, deren Aufenthalt in der DDR per se als befristet galt, vor und nach dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch und der gesamtgesellschaftlichen Transformation im Zuge der deutsch-deutschen Wiedervereinigung herausarbeiten lassen.
Schlagwörter: Vertragsarbeit, Mauerfall, Rassismus, biografische Fallrekonstruktion
Thomas Prennig
Privilegierte Außenseiter. Zum Verhältnis von Habitus und Deutungsmustern am Beispiel von Pfarrerskindern in der DDR.
Das historische Experiment einer grundlegenden Umverteilung von Bildungsprivilegien auf dem Gebiet der ehemaligen DDR hat eine außergewöhnliche Fülle bemerkenswerter Lebensläufe hervorgebracht, deren Aufarbeitung gerade jetzt – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – fundierte Erkenntnisse über grundlegende Mechanismen sozialer Praxis verspricht. Dabei stellen Biographien von Pfarrerskindern einen Idealtypus besonderer Güte dar: Der Widerspruch einer umfangreichen familiären Bildung und der kategorischen Verweigerung staatlicher Bildungsabschlüsse kreierte einen einzigartigen Habitus privilegierter Außenseiter, der über die Wiedervereinigung hinaus auf spezifische Deutungsmuster hin untersucht
wurde.
Schlagwörter: Biographie, DDR, Habitus, Außenseiter, Deutungsmuster
Ulrich Bahrke
Ostdeutsche Prägungen in der Gegenwart. Ein Erfahrungsbericht
Bei aller Verschiedenheit von Ostdeutschen kann als Folge der spezifischen Sozialisationsbedingungen in der DDR und deren Akzentuierung kindlicher und jugendlicher Entwicklungskonflikte bei dort Aufgewachsenen von einem ostdeutschen Anteil in der Identität gesprochen werden. Inwiefern die Auswirkungen und Bewältigungsmuster von den Alltag durchziehender diktatorischer Gewalt, materiellen Einschränkungen sowie dem Mangel an emotionalen und Diskursräumen, von ›Weltanschauung‹ und adoleszenten Spielräumen Aspekte dieses ostdeutschen Anteils prägten, wird durch Vignetten persönlicher Erfahrungen veranschaulicht und hypothetisch der Frage nachgegangen, welche Kontinuitätslinien dieses Anteils in die Gegenwart hineinragen.
Schlagwörter: Sozialisationsbedingungen DDR, Entwicklungskonflikte, Ostdeutschland
Psychologie & Gesellschaftskritik
44. Jahrgang · 2020 · Heft 3/4 (175/176)
Pabst, 2020
ISSN 0170-0537
Preis: 13,- €