Forensische Psychiatrie blickt als universitäres Spezialfach auf eine relativ kurze Geschichte zurück. Die Fragen, die an das Fach gestellt werden, haben demgegenüber eine lange Tradition. In dieser Tradition gab es immer ein Wechselspiel zwischen den Polen, die das Spannungsfeld ausmachen, in welchem die forensische Psychiatrie ihre Rolle zu finden trachtet: Auf der einen Seite die Justiz, die der psychiatrischen Beratung und Unterstützung bedarf, sich ihrer bedient und die Psychiatrie gelegentlich instrumentalisiert, um ihre gesellschaftlichen Ansprüche und normativen Bedürfnisse durchzusetzen; auf der anderen Seite die Psychiatrie, die mit ihren Erkenntnissen über die conditio humana und deren Störungen das Regelwerk der Justiz unterfüttert, hinterfragt und gelegentlich in Zweifel zieht. Dieses Spannungsfeld macht immer wieder Positionsbestimmungen und Reflexionen der eigenen Rolle erforderlich. Positionsbestimmungen können zur Abgrenzung bis hin zur Abwehr führen. Sie können aber auch dazu dienen, die Fundamente zu setzen, von denen die Brücke geschlagen wird zwischen den unterschiedlichen Aufgaben und Denkstilen von Psychiatrie und Recht. Je solider, verlässlicher und damit auch u. U. abgegrenzter das jeweilige Fundament ist, desto vertrauenswürdiger sollte der Brückenschlag sein.
Die Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Klinik der Universität München hat sich in den vergangenen 40 Jahren darum bemüht, ein solides und verlässliches Fundament zu schaffen, ein Fundament, welches nicht ohne Ecken und Kanten ist, aber ein Fundament, welches einen vertrauenswürdigen Brückenschlag zu Klinik und Gerichten ermöglicht.
Dieser Jubiläumsband, der die Arbeit der Abteilung und die Positionsbestimmungen des Faches darstellt, die während der 40-Jahr-Feier von herausragenden Vertretern aus Justiz und Psychiatrie geleistet werden, soll hierfür ein Zeugnis sein.
Inhalt:
1. Abteilungsgeschichte
Norbert Nedopil: Die Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München
2. Festvorträge
Norbert Nedopil: Forensische Psychiatrie und empirische Forschung
Winfried Hassemer: Empirie im Strafprozess - Das Konzept der forensischen Wahrheit
3. Sicherungsverwahrung
Wolfgang Pfister: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 zur Sicherungsverwahrung und seine Interpretation durch die Obergerichte
Jörg Kinzig: Empirische Erkenntnisse zur Sicherungsverwahrung als Grundlage der gutachterlichen Beurteilung
Thomas Wolf: Therapie und Richtervorbehalt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 - Auswirkungen auf die Unterbringungen nach § 63 StGB
Jürgen Müller: Die Stellung der psychiatrischen Fachgesellschaft zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts und zur Neuregelung der Sicherungsmaßnahmen
Volker Dittmann: "Psychische Störung" im Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) und im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 - Versuch einer Klärung
4. Publikationen der Abteilung
Werner & Matthias Mende: Forensische Aspekte intrafamiliärer Kommunikationsstörungen - Tötungsdelikte in der Kernfamilie
Henning Saß: Forensische Erheblichkeit seelischer Störungen im psychopathologischen Referenzsystem
Joachim Weber: Viktimologische Besonderheiten bei Sexualdelikten: Fälle von "Chiffriertem Matrizid"
Matthias Hollweg, Norbert Nedopil: Dokumentation in der forensischen Psychiatrie: bisherige Entwicklungen, Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung
Paul Hoff: Perspektiven der forensischen Psychiatrie - Eine psychiatrie-historische und aktuelle Bestandsaufnahme
Susanne Stübner, Norbert Nedopil: Ambulante Sicherungsnachsorge - Begleituntersuchung eines forensischen Modellprojektes in Bayern
Norbert Nedopil: Freiraum für den menschlichen Willen - Gedanken zu einem überflüssigen und unlösbaren Disput
Elena Yundina, Norbert Nedopil: Indirekte Diagnostik pädosexueller Neigungen
Martin Krupinski: "Justizambulanzen" braucht das Land!
Cornelis Stadtland: Evidenzbasierte Risikokommunikation und "Katastrophenschwelle" am Beispiel der Prognosebegutachtung von Sexualstraftätern. Prognostische Entscheidungen mit dem Konzept der Number Needed to Detain (NND) und Number Needed to Relapse (NNR)
Michael Soyka: Aggression und gewalttätiges Verhalten bei Schizophrenie - Prävalenz, klinische Korrelate und neurobiologische Grundlagen
2011, 360 Seiten, ISBN 978-3-89967-749-2, Preis: 30,- Euro