Who needs me? Wer braucht mich? lautet nach Sennett eine der wichtigsten Fragen westlicher Gesellschaften. Und in der Tat blieben die Verknappung von Arbeit und die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse nicht ohne Folgen für die Organisation des privaten wie des politischen Lebens: 6.5 Millionen Bundesbürger, die ohne Hoffnung auf auskömmliche Arbeit in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Deprivation leben, 2.5 Millionen Heranwachsende auf Sozialhilfeniveau, Hauptschüler in vererbter Bildungsarmut, Migrantenkinder ohne Zukunft - die Liste ließe sich verlängern.
Insofern kann es nicht verwundern, dass das Thema Gerechtigkeit wieder Konjunktur hat. Im vorliegenden Band werden Möglichkeiten untersucht, wie Human- und Sozialwissenschaftler bei ihren Servicefunktionen in Tätigkeitsfeldern entlang der Bruchlinien unserer Gesellschaft Gerechtigkeitsgesichtspunkte handlungsleitend berücksichtigen können, auch wenn jeder einzelne Arbeitstag nichts anderes bedeutet, als mit Sisyphos immer und immer wieder den Stein zu wälzen. Dabei reicht das Themenspektrum von Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, chronischer Krankheit, Migration bis hin zu medizinischer Versorgung, Erziehung, Bildung und Rechtsprechung.
Das Buch wendet sich an Human- und Sozialwissenschaftler - an Studenten ebenso wie an Professionals - aus den Bereichen der Medizin, der Pädagogik, der Psychologie, Soziologie und Sozialpädagogik.
Inhalt:
Vorwort
1
Facetten der (Un)Gerechtigkeit
Gisbert Roloff & Barbara Zoeke
2
Justiz und (personale) Gerechtigkeit
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Wolfgang Enders
Unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln, Gesetzeslücken und Verfassungsrecht:
Gerechtigkeitsoptionen für die Rechtsanwendung
3
Das Menschenrecht auf Arbeit
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Thomas Kieselbach
Berufliche Umbrüche unter einer psychologischen Gerechtigkeitsperspektive
4
Das Menschenrecht auf Wohnung
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Erika Hertel
Einige Menschen haben ein Nachtlager ... der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße - Arbeit mit Frauen am Rande der Gesellschaft
5
Arbeit mit Flüchtlingen als Menschenrechtsarbeit
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Franziska Lamott
Migration und Trauma in Zeiten des Humanitarismus - Notizen zu einer reflexiven Flüchtlingsarbeit
6
Pflegefamilien als Hort für Kindesrechte
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Monika Nienstedt & Arnim Westermann
Zur Entwicklung neuer Eltern-Kind-Beziehungen in Pflegefamilien
7
Inklusion statt Exklusion - professionelle Arbeit mit "Psychiatrie-Erfahrenen"
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Ann Davis
Social Work in Europe: Building credibility through inclusionary practice - a view from the United Kingdom (UK)
8
Das Menschenrecht auf Gesundheit
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Ulrike Berger & Peter Schwab
Vernunft wird Unsinn - Wohltat Plage. Allgemeinmedizinische Versorgung: Unterfinanzierung, Überregulation, Ungerechtigkeit
9
Beziehungsarbeit und personale Gerechtigkeit
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Beatrix Wildt
Gerechtigkeit und professionelle Beziehungsarbeit - Zur Balancierung von einander widersprechenden
institutionellen und individuellen Anforderungen
10
Das Menschenrecht auf Bildung
Einführung: Roloff, G. & Zoeke, B.
Johannes Wildt
Recht auf Hochschulbildung - eine hochschuldidaktische Reflexion
Rezension zum Buch:
Thema und Zielsetzung
Gerechtigkeit als uraltes und immer neues Thema im Verhältnis der Menschen untereinander bedarf der fortwährenden Reflexion und tätigen Auseinandersetzung, um lebendig gehalten zu werden. Gerechtigkeit ist kein Zustand, von dem wir wüssten, wie er im Idealfall auszusehen habe, sondern eher ein gesellschaftlicher Prozess, in dessen Verlauf immer wieder Verhältnisse hergestellt werden, die den Zugang der Menschen zu Ressourcen und Rechten - mehr oder weniger gerecht - regeln. Zweifellos haben sich in den letzten 20 Jahren diese Zugangsmöglichkeiten zum Teil dramatisch in Richtung einseitiger Verteilung verändert. Um Gerechtigkeit muss also immer wieder gerungen werden.
Die vorliegende Publikation, die auf einem Symposium an der Munich University of Applied Sciences im November 2004 beruht, geht deshalb der Frage nach, wie in der heutigen bundesdeutschen bzw. europäischen Zivilgesellschaft die Gerechtigkeitsfrage aufscheint und wie sie handlungsleitend berücksichtigt werden kann. Dabei werden unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche beleuchtet, in denen die Brisanz des Themas besonders ins Auge sticht. Neben der Reflexion zum Gerechtigkeitsbegriff insgesamt werden in den einzelnen Beiträgen Zustandsbilder, konkrete Möglichkeiten und Zukunftsszenarien aufgezeigt.
Das Buch wendet sich im Prinzip an alle Menschen, denen Gerechtigkeit ein Anliegen ist. Sicher ist es aber die Absicht der Herausgeber vor allem Menschen zu erreichen, die sich in ihren jeweiligen Arbeitsgebieten für diese Fragen interessieren, bzw. sich mit ihnen professionell auseinanderzusetzen haben. Insbesondere ist hier die "Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession" angesprochen.
Aufbau und Inhalt
In einem einführenden Kapitel geben die Herausgeber einen ganz ausgezeichneten und angenehm kurzen Überblick über die wesentlichen Facetten des Alltags- und Fachbegriffes der Gerechtigkeit, so dass eine Diskursebene geschaffen wird. Die folgenden 9 Beiträge beginnen dann jeweils mit einer thematischen Hinführung der Herausgeber, die den Boden für das dann Folgende bereiten.
Es beginnt mit der immer aktuellen Frage nach dem Verhältnis von juristischer Normierung und Gerechtigkeit (Wolfgang Enders, Justiz und (personale) Gerechtigkeit).
Der nächste Beitrag von Thomas Kieselbach beschäftigt sich mit der momentan besonders aktuellen Frage nach dem "Menschenrecht auf Arbeit". Insbesondere der Aspekt der beruflichen Umbrüche und die Möglichkeiten psychologischer Bewältigung werden in den Mittelpunkt gestellt und auf diese Weise werden Perspektiven aufgezeigt, wie Arbeitslosigkeit, die durch solche Umbrüche ja sehr oft entsteht, vermieden werden kann.
Das Kapitel "Menschenrecht auf Wohnung" von Erika Hertel beschäftigt sich mit der besonders prekären Situation obdachloser Frauen anhand eines konkreten Hilfsprojektes.
"Flucht und Migration" ist das folgende von Franziska Lamott bearbeitete Thema. Am Beispiel der Kosovo-Flüchtlinge wird deutlich gemacht, dass hier die Frage nach Gerechtigkeit bzw. der Anwendung von Menschenrechten nicht losgelöst von den politischen und militärischen Auslösern der Flucht betrachtet werden kann.
Der nächste Beitrag beschäftigt sich mit einem besonders sensiblen Thema der Rechts- und Gerechtigkeitsfrage, nämlich dem "gerechten" Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, wenn erstere "erziehungsunfähig" sind. (Monika Nienstedt und Arnim Westermann, Pflegefamilien als Hort für Kinderrechte) Am Beispiel der Arbeit mit und in Pflegefamilien wird deutlich gemacht, dass im Fall erziehungsunfähiger Eltern die Kinder eine wesentlich größere Chance auf Teilhabe haben, wenn sie in Pflegefamilien aufwachsen können.
Behinderung, speziell psychische Behinderung, war schon immer ein Anlass dafür, dass manche "gleicher" sind als andere. Der Beitrag von Ann Davis Inklusion statt Exklusion - professionelle Arbeit mit "Psychiatrie-Erfahrenen" beschäftigt sich mit der interessanten Frage, wie Soziale Arbeit durch die Art ihres - auch forschenden - Zuganges dazu beitragen kann, ob ihr Klientel - hier psychisch kranke Menschen - eher in der Ausgrenzung gehalten wird oder mehr integriert werden kann.
Der gesellschaftlichen Verantwortung für die Gesundheit und ihrer Realisierung in der Ausgestaltung rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen in Deutschland ist das folgende Kapitel gewidmet. (Ulrike Berger und Peter Schwab, Das Menschenrecht auf Gesundheit). Neben einem Überblick über das System der gesundheitlichen Versorgung werden die momentanen Ansätze einer "Gesundheitsreform" in Hinblick auf die Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit zu medizinischen Leistungen kritisch in Frage gestellt.
Einen ganz anderen Ansatz zur Frage der Gerechtigkeit verfolgt man im folgenden Kapitel (Beatrix Wildt, Beziehungsarbeit und personale Gerechtigkeit). Hier wird der Versuch unternommen, am Beispiel der Methode "Psychodrama" danach zu fragen, wie sich aus dem universalistischen Gerechtigkeitsanspruch der Institution und dem Einzelinteresse des Klienten ein professionelles Ethos des Beraters/Therapeuten ableiten lässt.
Der letzte Beitrag (Johannes Wildt, Das Menschenrecht auf Bildung) widmet sich speziell der Frage nach dem Zugang zur Hochschulbildung aus hochschuldidaktischer Perspektive.
Fazit
Das Buch ist lebendig und aktuell. Man spürt oft die/den Referentin/en hinter den geschilderten Erfahrungen und den Einschätzungen. Gerechtigkeit ist eben kein abstraktes Thema. Jeder ist persönlich und mit jeweils ganz eigenständigem Blickwinkel in das Ringen eingebunden. Das macht das Buch so gut lesbar. Es regt an und gleichzeitig beruhigt es auch ein wenig, weil man merkt, wie viel Bemühen doch da ist, nach besseren Lösungen zu suchen und sie praktisch anzupacken. Ein Werkstattbuch im besten Sinne, frei von Dogmatik und voller praktischer Erfahrung, Wissen, Einfühlung und mit dem rechten Anteil von Utopie. Ein Lesebuch für soziale Berufe in der Ausbildung und in der Praxis. Reflexionsmaterial für Seminare und Supervisionsgruppen. Sozialpolitikern sollte es mit Beginn ihres Mandates zur Pflichtlektüre gemacht werden - aber das ist natürlich Utopie.
Rezensent
Prof. Dr. med. Johannes Wiedemann
Hochschule München, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften
Quelle:
http://www.socialnet.de/rezensionen/5290.php
2007, 176 Seiten, ISBN 978-3-89967-348-7, Preis: 15,- Euro