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Jagd nach der Lücke

ETH-Forscher haben ein neues Modell zum Verhalten von Fussgängern und Menschenmassen entwickelt. Dieses kann helfen, tragische Massenkatastrophen zu analysieren und zu verhindern.

Zu den Stosszeiten wimmelt es an Bahnhöfen von Menschen auf dem Weg zur oder von der Arbeit. Die Menschenmassen strömen von den Gleisen zu den Ausgängen, den Rolltreppen, den Bushaltestellen. Zusammenstösse gibt es jedoch selten. Mal weicht man hier, mal da aus, aber jeder kommt erstaunlich schnell ans Ziel. Wie sich einzelne Fussgänger verhalten und wie die verblüffende Selbstorganisation von Menschenströmen zustande kommt, erklärt nun ein neues Modell, das Mehdi Moussaid und Guy Theraulaz vom CNRS in Toulouse sowie ETH-Professor Dirk Helbing entwickelt haben.

Modelle zur Computersimulation von Fussgänger- und Massenverhalten sind an sich nichts Neues. Die heute verbreiteten Simulationen stützten sich oft auf physikalisch inspirierte Annahmen wie die abstossenden Kräfte, die zwischen Fussgängern wirken. Das neue auf psychologischen Erkenntnissen basierte Modell berücksichtigt, dass Fussgänger dem Weg folgen, wo am wenigsten Hindernisse das Sichtfeld verdecken. Zudem passen sie ihre Gehgeschwindigkeit so an, dass sie einen Sicherheitsabstand zu anderen Leuten einhalten können. Die Forscher sprechen von heuristischen Regeln, also von Entscheidungen, die Fussgänger treffen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Kombiniert man sie mit Kontaktkräften, wie sie bei extrem hohen Fussgängerdichten auftreten, kann das Modell auch Massenpaniken realistisch abbilden.

Mut zur Lücke

Bisher nahm man an, dass jedes einzelne Hindernis eine abstossende Wirkung hat. Der neue Ansatz geht stattdessen davon aus, dass Fussgänger Lücken suchen und dass sie Gruppen als Gesamtheit wahrnehmen. Im Unterschied zu den Vorgängermodellen, welche die Umgebung eines Fussgängers in Einzeleffekte aufschlüsselten, erfasst der neue Beschreibungsansatz die Szenerie auf ganzheitliche, integrierte Weise. Als Reaktion auf eine komplexe Umgebung richtet sich der Betroffene neu aus, verlangsamt vielleicht seinen Schritt oder weicht in einem bestimmten Winkel aus, um Kollisionen zu vermeiden. Hingegen rechnet niemand zig Varianten aus, um die optimale Route auszuwählen. Das tun beispielsweise einige Ansätze in der Robotik, die den Menschen zu kopieren versuchen und ihn dabei als homo economicus, also als strikten Optimierer auffassen. Um den Weg des (fast) geringsten Widerstands durch die Massen zu finden, genügt jedoch die Anwendung einfacher Regeln, erklärt Helbing.

Modellansatz einfacher als erwartet

Die Forscher überprüften ihr Modell mit verschiedenen Datensätzen, vom Einzelindividuum bis hin zu Menschenströmen an Engpässen und bei Evakuierungen. «Noch nie sind so viele verschiedene Tests durchgeführt worden, um ein Modell zu untermauern», sagt Helbing. Dies sei jedoch nötig, weil das neue Modell einen Paradigmenwechsel darstelle. Für den Soziologen ist es ein wissenschaftlicher Durchbruch, weil die Fachwelt bisher davon ausgegangen ist, dass ein psychologisch-kognitiver Beschreibungsansatz viel komplizierter sei als ein physikalischer. «Jetzt haben wir eine grosse Überraschung erlebt: Das kognitive Modell ist wesentlich einfacher!»

Mit dem Modell lässt sich das Gehverhalten des Einzelnen genauso gut simulieren wie die Bewegung von Menschenmassen. Die Simulation zeigt, dass sich Fussgängerströme selbst organisieren. Wenn Fussgänger in entgegengesetzte Richtungen laufen, wie etwa in einer viel begangenen Bahnhofsunterführung, bilden sich - sowohl im Modell als auch in der Realität - separate Bahnen einheitlicher Gehrichtung aus. Das minimiert gegenseitige Behinderungen, macht den Fussgängerstrom viel effizienter - das Ergebnis kollektiver Intelligenz.

Wenn ein Beben durch die Menge geht

Das Modell zeigt aber auch, was passieren kann, wenn die Fussgängerdichte einen kritischen Wert überschreitet. Wenn Leute Schulter an Schulter gehen müssen, kommt es zu Stop-und-Go-Wellen. Der Menschenstrom stockt. Nimmt die Dichte noch weiter zu, geht das Ziehharmonika-Muster in Turbulenzen über, die schliesslich zu fatalen Massenpaniken führen können, bei denen Menschen zu Tode getrampelt werden.

Helbing hat beobachtet, dass vor einer solchen Katastrophe ein Wabern durch die Menschenmasse geht, welches die in der Masse eingeklemmten Leute hin und her wirft. Die Kräfte werden von einem Menschen auf den nächsten übertragen und summieren sich, zum Teil über Distanzen bis zu 10 Metern. Mit fatalen Folgen. «Da bauen sich Kräfteketten auf, die stark und unberechenbar sind und plötzlich die Richtung ändern, fast wie bei einem Erdbeben.» Bei einem solchen «Crowd Quake» kann leicht jemand zu Boden stürzen, und das Unglück nimmt dann seinen Lauf.

Echtzeit-Analyse könnte Katastrophen vermeiden helfen

Wie in Duisburg (vgl. ETH Life vom 27.7.2010). An der dortigen Love Parade starben im Sommer 2010 21 Menschen bei einer «Massenpanik», über 500 wurden verletzt. Das neue Modell kann nun dabei helfen, die Unfallursache aufzuklären und Präventionsmassnahmen für Grossveranstaltungen zu planen. Zunächst ging man davon aus, dass die Katastrophe deshalb ihren Lauf genommen hat, weil Menschen von einer Treppe auf die darunter stehende Menschenmenge gestürzt seien. Genauere Analysen zeigen aber, dass die Menge ins Wabern geriet, ehe die Panik ausbrach. «Ein Crowd Quake war Ursache für die Katastrophe», betont denn auch Helbing. Ordnungskräfte von Grossanlässen seien auf spezielle Hilfsmittel angewiesen, um solche Situationen besser einschätzen zu können. So könne beispielsweise eine Echtzeit-Analyse von Videoaufzeichnungen Leben retten, da sie früher zu erkennen hilft, wo sich Probleme aufbauen.

Krisenbekämpfung durch das FuturICT Flagship Projekt

Das Projekt illustriert, was im Kontext des von Helbing geleiteten EU-Flaggschiff-Projekts «FuturICT» im grossen Massstab geplant ist. Fussgängermengen sind ein Musterbeispiel für ein soziales System, bei dem soziale Interaktionen zu unbeabsichtigten Problemen führen können. Keiner wolle einem anderen schaden, aber dennoch treten «Massenpaniken» immer wieder auf. Wie es dazu kommt, war lange ein Rätsel. Dank des besseren Verständnisses sozialer Interaktionen würde man nun aber die zugrunde liegenden Mechanismen und Vorwarnzeichen kennen. Ausserdem könne man Gegenmassnahmen treffen und vorbeugen, wie es bei der Organisation der Hadsch, der muslimischen Pilgerfahrt nach Mekka, gelungen sei. «Aus dieser Perspektive passt dieses Projekt perfekt in den Rahmen von FuturICT. Eines der Ziele des Projektes ist es nämlich, Katastrophen durch den Einsatz von Computertechnologien zu vermeiden, indem man die Komplexität sozialer Systeme besser zu verstehen lernt.»




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