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Warum Zuschauer Comicfiguren lieben, aber schnell vergessen

Egal ob Mensch oder Kunstfigur: Wenn der Charakter Emotionen zeigt, reagiert das Gehirn intensiv auf ihn. (Foto: CITEC/Universität Bielefeld)

Wie comicartig darf ein Charakter in Filmen oder Videospielen aussehen, damit die Zuschauer mit ihm mitfühlen? Das haben Forscherinnen und Forscher des Exzellenzclusters Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld untersucht. Sie analysierten, wie unterschiedlich das Gehirn auf fotorealistische und eher stilisierte Figuren reagiert. Dabei kam heraus: Comicfiguren können die gleichen Emotionen auslösen wie menschliche Schauspieler, aber sie bleiben nicht so lange im Gedächtnis haften.

Das Team um die Psychologie-Professorin Dr. Johanna Kißler und den Informatik-Professor Dr. Mario Botsch präsentiert die Studie am heutigen Donnerstag (23.03.2017) im Forschungsjournal "Scientific Reports" des Nature-Verlags.

"Wir haben uns gefragt: Wie realistisch müssen Comicfiguren sein und wie künstlich dürfen virtuelle Avatare sein? Wann fühlen wir uns mit ihnen emotional verbunden und wann nicht?", sagt der Informatiker Eduard Zell von der Forschungsgruppe Computergrafik und Geometrieverarbeitung, die von Professor Dr. Mario Botsch geleitet wird. In seiner Dissertation setzt er sich mit dem Design künstlicher Charaktere auseinander. In Benutzerstudien erfasste er, wie Menschen diese Charaktere individuell wahrnehmen. Um zu klären, wie das menschliche Gehirn die fiktiven Figuren grundsätzlich wahrnimmt, entwickelten Zell und der Psychologe Dr. Sebastian Schindler von der Forschungsgruppe Affektive Neuropsychologie das Experiment für die jetzt vorgestellte Studie.

Die Gruppe von Professorin Dr. Johanna Kißler beschäftigt sich damit, wie das menschliche Gehirn Emotionen verarbeitet. Dafür misst das Team Hirnströme mittels Elektroden. Eine Kappe mit Elektroden nimmt die elektrischen Signale der Hirnströme auf der Kopfhaut auf, ein Computer wertet die Signale aus. Mit so einem EEG-Gerät lässt sich messen, wann eine Person auf einen Reiz besonders reagiert und anschließend berechnen, in welchem Areal im Gehirn die Reaktion auftritt.

In der Studie sahen die Versuchspersonen nacheinander 18 Bilder von ein- und derselben Person: drei echte Fotos, die die Person fröhlich, wütend und mit neutralem Gesichtsausdruck zeigen, außerdem gab es für jeden der Emotionsausdrücke fünf Varianten des Bildes, die die Person zunehmend stilisierter als comicartige Kunstfigur zeigen.

Stärkste Reaktion auf extrem comicartige und realistische Bilder

Die Versuchspersonen sahen die Bilder jeweils für eine Sekunde. Das EEG-Gerät erfasste, wie stark das Gehirn auf jedes der Bilder reagierte. Kißlers Team errechnete mit den EEG-Daten, aus welchem Hirnareal die Signale stammen. Ein zentrales Ergebnis: "Die Versuchspersonen reagieren sehr intensiv auf die Extreme - auf die echten Fotos und auf die Bilder, die am stärksten wie eine Cartoon-Figur aussehen", sagt Johanna Kißler. "Menschen sind also in der Lage, auch zu Comicfiguren eine starke mentale Verbindung herzustellen." EEG-Geräte erfassen am Hinterkopf einen speziellen Ausschlag, wenn die Versuchsperson ein menschliches Gesicht wahrnimmt. Dieser Ausschlag erfolgt mit einer Verzögerung von 170 Millisekunden und wird N170 genannt. "Und eben diesen Ausschlag haben wir besonders stark bei den extrem comicartigen und realistischen Bildern festgestellt", berichtet die Emotionsforscherin.

"Die mittelmäßig verfremdeten Fotos lösten bei unserer Messung keine starke Reaktion aus - wahrscheinlich, weil die Figuren als unecht empfunden wurden." Damit erklärt die Messung, warum Menschen ein befremdliches Gefühl spüren, wenn sie eine Figur sehen, die fast realistisch aussieht. Das Phänomen ist als Uncanny-Valley-Hypothese bekannt. Ihr zufolge bemerken Menschen zum Beispiel bei realistisch animierten Figuren instinktiv, dass es sich nicht um echte Menschen handelt. Sie bemerken unwillkürlich kleinste Abweichungen, die dafür sorgen, dass die Figur unrealistisch wirkt. "Bei Comicfiguren fällt dieser Effekt weg, weil gar nicht erst versucht wird, echte Personen vorzutäuschen."

Emotionale Gesichtsausdrücke wirken auch bei künstlichen Figuren

Unabhängig von dem Grad der realistischen Darstellung reagiert das Gehirn besonders stark, wenn der Betreffende emotionale Gesichtsausdrücke sieht. "Das könnte ein Grund sein, warum Menschen gerne Comicfilme schauen. Sie fiebern mit den Charakteren mit und spüren die gleichen Emotionen wie bei echten Menschen in Spielfilmen", sagt Kißler.

Es gibt allerdings einen markanten Unterschied. "Wir vergessen schnell, was die Cartoon-Figuren im Film erlebt haben. Die Erlebnisse echter Schauspieler können uns noch Tage beschäftigen, nachdem wir den Film gesehen haben." Das liegt daran, dass das Gehirn die Cartoon- und Real-Bilder unterschiedlich verarbeitet. "Unsere Studie belegt, dass die echten Fotos in einem Areal des visuellen Cortex verarbeitet werden, das für die Wahrnehmung von Menschen zuständig ist. Es erzeugt eine mentale Verbindung zu ihnen und speichert ihre Gesichter im Langzeitgedächtnis", sagt die Psychologin. "Auf die sehr künstlichen Bilder reagiert ein Bereich, der für die Wahrnehmung von Objekten zuständig ist. Mit solchen Objekten stellt das Gehirn aber keine Identifikation her, und das Gehirn speichert sie nicht langfristig."

Die Studienergebnisse lassen sich für das Design von Avataren (künstliche Charaktere) und von Robotern nutzen. "Figuren mit comicartigem, stereotypem Aussehen eignen sich demnach vor allem, wenn es um kurzfristige Interaktionen mit Menschen geht, wenn zum Beispiel ein Roboter Besucher in einem Restaurant zum Tisch führt", sagt Professor Dr. Mario Botsch, der die Studie mit geleitet hat. "Wenn eine persönliche Beziehung erforderlich ist, ist ein menschenartiger Charakter geeigneter."

Das von CITEC koordinierte Projekt KogniHome nutzt solche Charaktere. Virtuelle Agenten, die aussehen wie Familienangehörige, sollen beispielsweise Senioren in ihrer intelligenten Wohnung assistieren. Diese Avatare entwickelt die Forschungsgruppe Computergrafik und Geometrieverarbeitung. Für die Psychologie-Studie mit Johanna Kißler haben die Informatiker das Äußere zweier Personen eingescannt und im Computer in Avatare umgewandelt.

Originalveröffentlichung:
Sebastian Schindler, Eduard Zell, Mario Botsch and Johanna Kißler: Differential effects of face-realism and emotion on event-related brain potentials and their implications for the uncanny valley theory. Nature Publishing Group, dx.doi.org/10.1038/srep45003, veröffentlicht am 23. März 2017




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