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Wikipedia-Artikel über Katastrophen suggerieren Vorhersehbarkeit

Dr. Aileen Oeberst (Foto: privat)

Wissenschaftler aus Tübingen und Münster aus dem DFG-Schwerpunktprogramm "Wissenschaft und Öffentlichkeit" haben am Beispiel von Wikipedia untersucht, inwieweit dort der "Rückschau-Effekt" eine Rolle spielt. Dieser führt dazu, dass Menschen Ereignisse im Nachhinein unbewusst als vorhersehbar wahrnehmen. Die Forscher wiesen den Effekt bei Artikeln über Katastrophen nach, nicht aber bei Artikeln über andere Ereignisse.

Das DFG-Schwerpunktprogramm endet mit einer Tagung vom 29. bis 30. September in Münster. Dabei werden schlaglichtartig einige Forschungsergebnisse, darunter die Studie zum "Rückschau-Effekt", vorgestellt.

Die frei zugängliche und mehrsprachige Online-Enzyklopädie Wikipedia hat fast jeder Internetnutzer schon einmal in Anspruch genommen. Aber bilden die Artikel das Wissen immer korrekt und neutral ab? Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Wissensmedien in Tübingen und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) haben im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Schwerpunktprogramms "Wissenschaft und Öffentlichkeit" untersucht, ob bei Wikipedia-Artikeln der sogenannte Rückschau-Effekt auftritt. Dieser führt dazu, dass Menschen Ereignisse im Nachhinein unbewusst als vorhersehbar und oft auch als unvermeidbar wahrnehmen. Bei Wikipedia, so das Fazit der Forscher, taucht dieser Effekt bei einem Teil der Artikel auf.

Die Wissenschaftler untersuchten mehr als 30 Wikipedia-Artikel über unterschiedliche Ereignisse in verschiedenen Kategorien, beispielsweise Katastrophen, Wahlen und wissenschaftliche Entdeckungen. Sie verglichen jeweils die letzte Artikel-Version vor dem Ereignis mit Versionen, die nachher entstanden. Das Ergebnis: Die späteren Artikelversionen suggerierten teils deutlich stärker, dass es zu dem Ereignis kommen musste. Allerdings trat dieser Effekt nur bei Texten der Kategorie "Katastrophen" auf.

"In der Mehrheit der Wikipedia-Artikel haben wir keine Rückschau-Verzerrungen gefunden", sagt Projektleiterin Dr. Aileen Oeberst vom Leibniz-Institut für Wissensmedien. Aber gerade die Artikel über Katastrophen, bei denen sie häufig auftraten, würden besonders oft gelesen und könnten bei den Lesern den Eindruck verstärken, dass die beschriebene Katastrophe vorhersehbar war. Bei dem Artikel über die Nuklearkatastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi seien beispielsweise erst in den späteren Versionen ganze Passagen über Risiken und Konstruktionsmängel dieses Kraftwerkstyps aufgetaucht. Dabei habe es diese Informationen schon lange vor der Katastrophe gegeben. Andere Fakten, beispielsweise, dass das Kraftwerk regelmäßig geprüft worden war, seien weggefallen.

Die Autoren der Wikipedia-Beiträge suchten also nach dem Unglück nach Informationen, die erklären, weshalb es zu dem Ereignis kam. "Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine absichtliche Verzerrung", betont Aileen Oeberst. "Sie kann sich einschleichen, selbst wenn jemand einen neutralen Artikel schreiben möchte." So sei gerade der Fukushima-Artikel bei Wikipedia gut recherchiert und fundiert. "Ich würde auch nicht davon ausgehen, dass der Rückschau-Fehler nur bei Wikipedia auftritt. Er wäre vermutlich auch in anderen Quellen nachweisbar, beispielsweise in journalistischen Texten."

Die Wissenschaftler halten Wikipedia für eine gute Quelle, um schnell einen Fachbegriff nachzuschlagen und wissenschaftliche Phänomene kennenzulernen. "Die Nutzer sollten sich aber bewusst sein, dass Wikipedia eine von vielen Menschen gestaltete und genutzte dynamische Enzyklopädie ist, die Fehler der menschlichen Informationsverarbeitung nicht ausschließt", gibt Prof. Dr. Mitja Back zu bedenken, der gemeinsam mit Dr. Steffen Nestler Projektleiter an der WWU Münster ist. "Die Identifikation dieser Fehler und das Wissen darum, wann sie auftreten, könnten helfen, die Wikipedia-Inhalte noch zuverlässiger zu gestalten."

Die Studie ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Schwerpunktprogramms "Wissenschaft und Öffentlichkeit". Bei diesem Programm wurden insgesamt 29 Projekte sechs Jahre lang unterstützt; Sprecher ist der Psychologe Prof. Dr. Rainer Bromme von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Das Schwerpunktprogramm endet mit einer Tagung vom 29. bis 30. September in Münster. Dabei werden schlaglichtartig einige Forschungsergebnisse, darunter die Studie zum Rückschau-Effekt (Vortragstitel: "Können wir Wikipedia trauen?"), vorgestellt.




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