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Psychiater und Zeitgeist: kontinuierliche und gebrochene Wechselwirkungen

Die Wechselwirkungen zwischen Psychiatrie und Zeitgeist faszinieren zunehmend mehr Ärzte, Psychologen und Historiker. Die Reflexion der Zusammenhänge ermöglicht auch ein differenzierteres Verstehen von aktuellen psychiatrisch-psychotherapeutischen Entwicklungen. Prof. Dr. Henning Sass (Aachen) bespricht in der aktuellen Ausgabe von "Der Nervenarzt" das Standardwerk zum Thema - "Psychiater und Zeitgeist".

"Hanfried Helmchen, von 1971 bis 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Freien Universität in Berlin, hat bereits 2007 eine äußerst informative "Geschichte der Psychiatrie an der Freien Universität in Berlin" vorgelegt (vgl. die Besprechung in dieser Zeitschrift, Heft 11/2007: 1246). Bereits dort war das besondere Interesse des Autors für Fragen des Zeitgeistes und seiner Einflüsse auf Theoriebildung und  Praxis der Psychiatrie erkennbar. Kein anderes medizinisches Fach unterliegt so stark den Einflüssen aus gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen, wie sie gerade während des Ordinariates des Herausgebers in Berlin zu manchmal geradezu turbulenten Umbrüchen geführt haben.

Zu Beginn dieses neuen, zeitgeschichtlich höchst informativen Bandes führt  Helmchen in die Wechselwirkungen zwischen Psychiatrie und soziokulturellem Kontext mit reichen Bezügen zur psychiatriehistorischen, medizinethischen und auch klinischen Diskussion ein. Zu Recht führt er aus, dass die ihn beschäftigende Frage nach den Beziehungen zwischen einzelnen Persönlichkeiten und dem Zeitgeist an Episoden der Nachkriegszeit besonders gut zu erhellen ist, und dies vor allem im geteilten und dann vereinigten Berlin, wo sich der Zeitgeist mit besonderer Deutlichkeit artikuliert hat. Helmchen spannt einen weiten Bogen von der Rolle der Psychiatrie als einer zunächst karitativen und dann zunehmend sozialen Sicherungs- und Verwahrungseinrichtung bis hin zu einer medizinisch-therapeutischen Disziplin, die ihre sozialen Sicherungsfunktionen jedoch nie ganz verloren hat. Bei aller Verflechtung des Faches mit sozialen Entwicklungen betont der Autor sein persönliches Credo, wesentliche Aufgabe der Psychiatrie sei die Unterstützung psychisch Kranker darin, mit ihrem schweren seelischen Leiden umzugehen.

Es ist dem Herausgeber gelungen, eine bemerkenswerte Corona von Wissenschaftshistorikern, Psychiatern, Psychotherapeuten und Neurologen für diesen Band zu versammeln. Am Anfang werden frühe Differenzierungen der Psychiatrie im wissenschaftlich- konzeptuellen Kontext, beginnend in den Zeiten von Wilhelm Wundt und Theodor Ziehen bis hinzu Helmut Selbach und Karl Leonhard dargestellt. Es folgen thematisch und chronologisch gruppierte Beiträge, deren gemeinsame Linie in der Beachtung der jeweiligen zeitgeschichtlichen Bezüge besteht. Je nach Interessengebiet wird jeder Leser subjektive Schwerpunkte bei der Lektüre setzen und spannende Querverbindungen zu heutigen Problemstellungen finden, etwa in den Kapiteln über die "Neurologisierung der Psychiatrie" bei Romberg, Griesinger und Westphal (R. Schiffter) oder über "Psychiatrie und Hirnforschung im Wissenschaftsraum der Berliner Metropole" (F. W. Stahnisch). Psychiatriehistorisch wie gesellschaftspolitisch relevant sind die Darstellungen über die Psychiatrie und Rechtsmedizin im 20. Jahrhundert am Beispiel von Müller-Hess, Elisabeth Nau und Wilfried Rasch (H.- L. Kröber) oder die Meilensteine in der Entwicklung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als selbstständige Disziplin (H. Remschmidt). Interessante Bezüge zu gegenwärtig aktuellen Diskussionsfeldern etwa der PTSD und der sog. Traumaforschung finden sich bei der Rekonstruktion des Kampfes um die "traumatische Neurose" zwischen Oppenheim und seinen Kritikern in Berlin (D. Holdorff). Gleiches gilt für die Schilderung der Anfänge der psychoanalytischen Therapie mit Karl Abraham und dem psychoanalytischen Institut (U. Rüger) oder die Nachzeichnung der Spuren der psychosomatischen Medizin in Berlin mit Franz Alexander, Michael Balint, Gustav von Bergmann (P. Vogelsänger). Besonderes Gewicht haben die Beiträge in den Kapiteln über den Nationalsozialismus in der Berliner Psychiatrie um Namen wie Karl Bonhoeffer und Maximinian de Crinis (T. Beddies), über die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie" (T. Fuchs) sowie über die emigrierte Berliner Psychiatrie (U. H. Peters).

Diese und eine Fülle anderer Themen bieten dem an der Entwicklung unseres Faches und an seiner Einbettung in den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext interessierten Leser wertvolle Anregungen. Dies hilft bei der Klärung der gegenwärtigen Rolle der Psychiatrie im Zusammenspiel mit den anderen medizinischen, aber auch den geisteswissenschaftlichen Disziplinen."




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