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Carl Stumpf als geistiger Vater der Gestalt- und Ganzheitspsychologie

Die Sichtweise Carl Stumpfs (1848-1936) innerhalb der Literatur über die Gestalt- und Ganzheitspsychologie mutet im Ganzen bizarr an: Stumpf wird in der Literatur einerseits als ,geistiger Vater‘ der Gestaltpsychologie apostrophiert, andererseits aber überhaupt nicht oder nur ,am Rande‘ erwähnt. Für diesen sonderbaren Tatbestand gibt es freilich Gründe, die in historischer wie systematischer, auch aktueller Perspektive aufschlussreich sind. Zwei Tagungen erörtern diese Thematik: ein Workshop am 18. Mai an der TU Dortmund und die 3. Jahrestagung der Carl Stumpf Gesellschaft am 28. und 29. September 2012 an der Universität Köln. Veranstalterinnen sind Prof. Dr. Ellen Aschermann und Prof. Dr. Margret Kaiser-el-Safti.

Die Gestalt- und Ganzheitspsychologie kann als das bedeutendste Paradigma der theoretischen Psychologie gelten; sie hat als wissenschaftliche Schulrichtung mit einem  hoch angesetzten Erkenntnisinteresse fast ein halbes Jahrhundert lang in verschiedenen Unterschulen oder -richtungen den Ton angegeben. Gründe für die unterschiedliche Würdigung Carl Stumpfs liegen zum einen in Stumpfs Gewichtung der auditiv-musikalischen Wahrnehmung und die aus ihr erschlossenen allgemeinpsychologischen Folgerungen, während seine Schüler, die Berliner Gestaltpsychologen, - vermutlich auch aus taktischen Gründen, denn ,Musik‘ ist nicht ,Jedermanns Sache‘ -  den Fokus wieder auf die traditionell bevorzugte visuelle Wahrnehmung legten; zum anderen resultierte zunehmende Distanz zwischen Stumpf und den Schülern aus philosophischen Richtungsdifferenzen wie ,Positivismus versus Phänomenologie‘, die unter anderem das Leib-Seele-Problem betrafen.

Auch die brisanten politischen Verhältnisse in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert dürften mitgespielt haben. 

Die Vernachlässigung des Hörens und der Beschäftigung mit der Leib-Seele-Problematik nimmt nicht Wunder, denn in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg fand weder das Hören noch das Leib-Seele-Problem in der psychologischen Forschung eine nennenswerte Resonanz. Seit ca. zwanzig Jahren ziehen aber beide Themen zunehmend Aufmerksamkeit auf sich, initiiert durch das Interesse der Neurologie, die sich gerade im Rahmen neuro-akustischer Forschung Aufschlüsse über Funktionsweisen des Gehirns verspricht; die Fortschritte in der Hirnforschung haben innerhalb der Philosophie wieder fundamentale Fragen über das Leib-Seele-Problem aufgeworfen, die Stumpf bereits berücksichtigt hatte, während die derzeitige Psychologie sich kaum von dem Leib-Seele-Problem angesprochen zu fühlen scheint, was freilich mit der Schwierigkeit zusammenhängt, den Gegenstand psychologischer Forschung zu bestimmen.

Die Zurückhaltung der Psychologie in beiden Fragen spiegelt in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive den Abbruch der theoretisch hochentwickelten deutschen Psychologie vor Ausbruch des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges wider. Die erneute Beschäftigung mit Carl Stumpf und seiner theoretischen Positionierung innerhalb der gestaltpsychologischen Schule könnte den Blick schärfen für noch ungenützte  Ressourcen der theoretischen Psychologie und deren Einflussnahme auf angrenzende Wissenschaften vom Menschen, aber auch auf  Didaktik, Ethik und Ästhetik. Ob die Gehirnforschung uns in nächster Zeit ein neues Menschenbild oder "Kein neues Menschenbild" (P. Janisch 2009, M. Dennett & P. Hacker 2010) anzubieten hat oder gar vorschreiben möchte, hängt weitgehend ab von der Klärung philosophischer und psychologischer Grundlagenfragen und deren zukünftiger Weichenstellungen.


Literatur zum Thema:
Konkrete Psychologie – Die Gestaltungsanalyse der Handlungswelt
Jüttemann, G.; Mack, W. (Hrsg.)

 




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