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Kriegsverbrechertribunal Den Haag: "Die Opfer fühlen sich nicht gehört"

Sozialwissenschaftlerin Natalija Bašic erforscht, welche Wirkung die Prozesse vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auf die Menschen im ehemaligen Jugoslawien haben

 

Seit 15 Jahren ist Frieden auf dem Balkan - und doch ist die Geschichte des Bosnien-Krieges nicht vorbei. "Großväterchen Grausam", wie der frühere bosnische Serbenführer Radovan Karadžic auch genannt wird, sitzt noch immer in Untersuchungshaft. Die Anklage wirft ihm unter anderem die Mitschuld am Tod von 10 000 Menschen während der Belagerung der bosnischen Stadt Sarajevo vor. Im März soll der Prozess gegen ihn in Den Haag fortgesetzt werden. Der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milošević, der sich dort wegen Völkermordes verantworten musste, verstarb während des vierjährigen Prozesses. Natalija Bašic forscht an der Freien Universität über die Wahrnehmung des Tribunals in der Bevölkerung.

Frau Bašic, im vergangenen Jahr haben Sie eine Studie in Serbien begonnen und bereits Gespräche mit 30 Serben ausgewertet. Wie beurteilen die Befragten einen solchen Kriegsverbrecherprozess?

Im Zusammenhang mit der Verhandlung gegen den jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Miloševic ist die Haltung der Befragten gegenüber dem Internationalen Gerichtshof zwiespältig. Einerseits wird das Tribunal kritisiert, andererseits die Kooperation stark befürwortet.

Was wird an dem Tribunal kritisiert?

Die Opfer des Regimes, die vertrieben wurden oder Angehörige verloren haben, fühlen sich vor Gericht nicht genügend repräsentiert. Das hat damit zu tun, dass viele Zeugenaussagen in Den Haag nicht gehört werden müssen, weil die Taten anders bewiesen werden können. Verwunderung gibt es auch darüber, dass das Strafmaß bei einem Kriegsverbrecher nicht anders ausfallen kann als in einem gewöhnlichen Strafprozess. Weil Miloševic Tausende getötet hat, heißt das ja nicht, dass er Tausend Mal schärfer verurteilt wird als jemand, der heute in Belgrad, Zagreb oder Sarajevo jemanden auf offener Straße ermordet. Das ist für einige Befragte schwer zu begreifen.

Warum halten Ihre Gesprächspartner das Verfahren für ungerecht?

Das Missverständnis ist: Die Justiz legt einen anderen Wahrheitsbegriff zugrunde als der normale Mensch. Ein Gericht ist ja nicht dazu da, historische Wahrheit aufzudecken oder zu erklären. Es soll anhand von juristisch verwertbarem Material zu einem Urteil gelangen. Das, was vor Gericht zu einer Urteilsfindung führt, ist häufig etwas anderes als das, was ein Historiker relevant finden mag. Recht und Gerechtigkeit ist eben nicht dasselbe.

Sind nur die Opfer mit dem Prozess unzufrieden?

Nicht nur. Die meisten Befragten stellen mit großem Bedauern fest, dass der Prozess durch den Tod Miloševic' nicht zuende gebracht werden konnte. Was einigermaßen überraschend ist, da die Interviews nicht in Bosnien oder Kroatien stattfanden, sondern in Serbien.

Miloševic nutzte seinen Prozess bis zu seinem Tod als öffentliche Bühne. Wie kam das bei den Befragten an?

Da sich Miloševic vor Gericht selbst verteidigt hat und der Prozess im Fernsehen live übertragen wurde, war er fähig, weit von seiner Heimat entfernt Menschen zu manipulieren. Mehrere meiner Gesprächspartner schildern, dass sie - obwohl sie zunächst klar gegen Miloševic waren - plötzlich für ihn Partei ergriffen haben. Das ist wie bei einem Fußballspiel. Die Menschen fiebern mit.

Ein Gruppenphänomen?

Nur teilweise. Die Probanden waren begeistert und fasziniert von Miloševic’ rhetorischen Fähigkeiten. Da steht eine solche Figur alleine vor diesem großen, wichtigen Gericht und bietet ihm Paroli - das beeindruckt die Leute. Im Nachhinein ist es ihnen peinlich, sie schämen sich für ihre Faszination. Auch Karadžic versuchte, sich nach seiner Verhaftung als Märtyrer zu inszenieren. Einige Länder hätten "eine kleine Nation benutzt und missbraucht",umihre eigenen militärischen und strategischen Ziele durchzusetzen, erklärte er gegenüber Medienvertretern. Gerade die Unkenntnis darüber, wie ein Prozess funktioniert, produziert eine gewisse Ohnmacht. Die führt wiederum dazu, dass die Leute Verschwörungstheorien entwickeln. Sie meinen, es gehe vor Gericht nicht mit rechten Dingen zu, die militärische Intervention Ende der 1990er Jahre werde durch einen solchen Prozess nachträglich legitimiert. Das zeigte sich auch in unseren Gesprächen.

Der kroatische Schriftsteller Edo Popovic schrieb im "Spiegel", die Serben würden sich auch nach der Verhaftung von Karadžic ihrer Vergangenheit nicht stellen. Hatten Sie denselben Eindruck?

Nein. Ich glaube, die Aufarbeitung der Geschichte geht viel schneller voran als in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die junge Generation hat über das Internet Zugang zu internationalen Medien und nicht nur zu den Zeitungen, die ihnen im eigenen Land zur Verfügung stehen. Aber auch dort ist die Zensur nicht so stark, wie man sich das hier vorstellt. Die Leute können sich vielseitig informieren.

Wie geht es mit Ihrer Studie weiter?

Ich werde im Frühjahr wieder in die Region reisen, diesmal nach Bosnien oder Kroatien. Dort werde ich ähnliche Gespräche wie in Belgrad führen, immer in Gruppen mit sechs Teilnehmern. Vielleicht ist es sogar möglich, Vertreter verschiedener Gruppen an einen Tisch zu bekommen - Serben und Kroaten zum Beispiel. Ob die Bereitschaft überhaupt da ist, wird man sehen.

Was würden Sie sich von einem solchen Treffen erhoffen?

Ein differenzierteres Bild davon, wie die Menschen Kriegserlebnisse bewältigen - und welche Gefühle dabei eine Rolle spielen.

Das Gespräch führte Philipp Eins




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