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Psychosoziale und Medizinische Rehabilitation

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Wann dürfen Menschen vor sich selbst geschützt werden?

Der Deutsche Ethikrat hat am heutigen Donnerstag in Berlin seine Stellungnahme „Hilfe durch Zwang? Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung“ veröffentlicht.

Mit Wohltätigkeit und Fürsorge begründete Zwangsmaßnahmen sind in vielen Feldern des Sozial- und Gesundheitswesens verbreitet. Dabei handelt es sich etwa um freiheitsentziehende Maßnahmen, wie die Unterbringung in Kliniken und anderen stationären Einrichtungen gegen den Willen der betroffenen Person oder das Anbringen von Bettgittern oder Fixierungsgurten, um medizinische Behandlungen oder Pflegemaßnahmen gegen den Willen eines Patienten oder um sogenannte intensivpädagogische Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe. Wenn eine Person sich selbst schwer zu schädigen droht, können solche Zwangsmaßnahmen dem Wohl der betroffenen Person dienen. Gleichwohl stellt jede Anwendung solchen „wohltätigen Zwangs“ einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Person dar und ist folglich in besonderem Maße rechtlich und ethisch rechtfertigungspflichtig. Dies führte immer wieder zu kritischen Diskussionen über entsprechende Praktiken in der Medizin, in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie in Pflege- und Behindertenheimen. Der Deutsche Ethikrat greift mit seiner Stellungnahme diese Diskussionen mit dem Ziel auf, Politik, Gesetzgeber und Angehörige von Gesundheits- und Sozialberufen auf Regelungs- und Umsetzungsdefizite im schwierigen Problemfeld der professionellen Hilfe durch Zwang hinzuweisen und Lösungsvorschläge aufzuzeigen.

Grundsätzlich ist der Ethikrat der Auffassung, dass die Anwendung von Zwang im Kontext professioneller Sorgebeziehungen nur als Ultima Ratio in Betracht kommt. Das heißt zunächst, dass Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozesse so gestaltet werden sollten, dass Zwang möglichst vermieden wird. Kommt es dennoch zu Situationen, in denen eine Person schweren Schaden zu nehmen droht, etwa weil sie sich einer erforderlichen medizinischen Maßnahme widersetzt, so muss durch beharrliche Überzeugungsarbeit versucht werden, die freiwillige Zustimmung oder Mitwirkung des Betroffenen zu erzielen. Auch müssen vor der Durchführung einer Zwangsmaßnahme alle zur Verfügung stehenden weniger eingreifenden Möglichkeiten ausgeschöpft werden, mit denen das gleiche Ziel erreicht werden kann.

Zwangsmaßnahmen dürfen nur in Situationen in Erwägung gezogen werden, in denen ein Sorgeempfänger in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung so stark eingeschränkt ist, dass er keine freiverantwortliche Entscheidung zu treffen vermag. Das bedeutet umgekehrt, dass der freie Wille einer voll selbstbestimmungsfähigen Person auch dann zu respektieren ist, wenn ihr erhebliche Risiken für Leib und Leben drohen. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist damit der zentrale normative Bezugspunkt im Umgang mit Zwang, auch wenn die Grenze der fehlenden Freiverantwortlichkeit in der Praxis schwer zu ziehen ist.

Jede Zwangsmaßnahme bedeutet in letzter Konsequenz eine Fremdbestimmung des Gezwungenen. Umso wichtiger ist es, ihre Durchführung so zu gestalten, dass Achtung und Respekt vor der individuellen Person und ihrer Selbstbestimmung soweit als möglich gewährleistet bleiben. Das bedeutet unter anderem, dass ihr Anspruch auf Partizipation durch Einbeziehung in die Planung und Durchführung sowie die Nachbereitung einer Zwangsmaßnahme durchgesetzt werden muss.

Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile einer Zwangsmaßnahme muss stets auch die Möglichkeit sekundärer Schäden etwa in Form von Demütigung, Traumatisierung oder Vertrauensverlust berücksichtigt werden. Die Dauer von Zwangsmaßnahmen sollte so kurz wie möglich gewählt werden. Um dies sicherzustellen, muss in angemessenen zeitlichen Abständen regelmäßig überprüft werden, ob die Voraussetzungen für den Einsatz von Zwangsmaßnahmen weiterhin vorliegen. Wegen ihres exzeptionellen Charakters müssen Zwangsmaßnahmen sorgfältig dokumentiert und in regelmäßigen Abständen ausgewertet werden. Maßnahmen der Qualitätssicherung inklusive Fehlermeldesysteme und Beschwerdemanagement sollten auch Zwangsmaßnahmen erfassen.

An Zwangsmaßnahmen beteiligtes Personal sollte speziell geschult sein. Die interkulturelle Kompetenz der professionell Sorgenden sollte gefördert werden. Auch sollten Strukturen geschaffen werden, die kulturelle und sprachliche Barrieren minimieren. Professionell Sorgende, die an Zwangsmaßnahmen beteiligt sind, sollten Unterstützung und Begleitung erhalten, um die im Umgang mit Zwang gemachten eigenen Erfahrungen kognitiv und emotional zu verarbeiten. Kollegiale Beratungsgremien sollten etabliert werden, die sich mit dem Einsatz von Zwangsmaßnahmen prospektiv und retrospektiv befassen.

Die Öffentlichkeit sollte für die ethisch und rechtlich problematischen Aspekte von Zwangsmaßnahmen im Umgang mit psychisch Kranken in Krisensituationen, Kindern und Jugendlichen in schwierigen familiären und sozialen Verhältnissen sowie pflegebedürftigen alten und behinderten Menschen sensibilisiert werden. Dabei fällt den Medien die wichtige Aufgabe einer differenzierten und sachangemessenen Berichterstattung zu.

Zusätzlich zu diesen (und weiteren) grundsätzlichen Empfehlungen für den verantwortungsvollen Umgang mit Zwang in professionellen Sorgebeziehungen hat der Ethikrat eine Vielzahl bereichsspezifischer Empfehlungen für die drei Praxisfelder Psychiatrie, Kinder- und Jugendhilfe sowie Altenpflege und Behindertenhilfe formuliert, die in der Stellungnahme nachgelesen werden können.

 

Literatur zum Thema

Georg Juckel, Knut Hoffmann (Hrsg.)
Ethische Entscheidungssituationen in Psychiatrie und Psychotherapie
Pabst, 260 Seiten. Hardcover ISBN 978-3-95853-187-1. e-book
ISBN 978-3-95853-188-8
 

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