"Körperwelten" als gesellschaftliches Schlüsselereignis
Durchsichtige Leichenscheiben als Wohnungsschmuck. - "Schön wie bunte Kirchenfenster", so Gunther von Hagens. Seit 1997 sind die durch das Verfahren der Plastination konservierten Leichen einem Millionenpublikum in der Ausstellung "Körperwelten" gezeigt worden. Hieß es 1997 noch, die durch die neue Technologie der Plastination hergestellten "individuellen" Körperpräparate würden nur an seriöse wissenschaftliche Institute verkauft, sollen sie heute in "Fließbandproduktion" hergestellt werden und für jede Privatperson "günstig" zu kaufen sein. Vom "wissenschaftlichen, echten, unterhaltsamen Bildungsobjekt" der "Körperwelten" und ihrem offiziellen Ziel einer "Demokratisierung des Wissens" haben sich die sogenannten "Plastinate" aus toten Körpern zum Konsumangebot eines globalen Privatkonzerns gewandelt.
Trotz anfänglich heftiger Diskussionen und unzähliger Medienberichte gibt es bislang kaum grundlegende Analysen dieser Entwicklung und der mit ihr verbundenen Verschiebungen gesellschaftlicher Werte und Normen. Die neue Technologie der Plastination, die auf den menschlichen Körper zugreift und offen beansprucht, unser Menschenbild wissenschaftlich, kulturell, politisch und religiös umzuprägen, scheint vielmehr zur akzeptierten Normalität geworden zu sein.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen den wissenschaftlichen und epistemologischen Zielen und Strukturen der Plastinationstechnologie nach und zeigen ihre tiefgreifenden gesellschaftlichen Einflüsse. Sie verdeutlichen die mit der Bewirtschaftung der Leichen verbundenen Definitionsverschiebungen von Leben, Tod, Körper, Seele, Person, Individualität und Würde und zeichnen nach, wie die Inszenierungen der "Körperwelten" auf existentielle Gefühle, Erfahrungen und Hoffnungen zugreifen und neue Deutungen dafür suggerieren. Dabei wird deutlich, dass die von der Ausstellung gebündelten und verstärkten Prozesse keineswegs abgeschlossen sind, sondern uns vor wesentliche Entscheidungen über unsere Ethik, unser Verständnis unserer Körper und Seelen und unser Zusammenleben stellen.
Inhalt:
Vorwort:
"Lifeseeing" in den "Körperwelten". Entwicklungsgeschichte "schöner Leichen ohne Verfallsdatum"
Liselotte Hermes da Fonseca
Eine persönliche Versenkung in Tod, Leiche und Autopsien. Memento mori ...
Vincent Crapanzano
Die "Würde der Leiche" ist unantastbar
Aspekte des Zusammenbruchs eines Menschenbildes
Franco Rest
Jenseits des Anstands - Ein Versuch über Anstand, Abstand und Transformation
Michael Langhanky
Tod. Tote. Tabu.
Reflektiert in der Sprache Antigones, Hölderlins, Freuds, Lacans
Karin Dahlke
Seelige Erinnerungen - ein Essay über verkörperte Memoria
Annette Leibing
Vom Umgang mit toten Körpern: Zur Geschichte der Bestattungskultur in der Neuzeit
Norbert Fischer
Der Leichnam und die Religion
Theologische und religionsgeschichtliche Aspekte zum Umgang mit dem toten Körper
Rüdiger Sachau
Theatrum anatomicum: Zur Dramaturgie einer Körperöffentlichkeit
Uli Linke
Die Konstruktion des Echten: Das Körperbild der Ausstellung "Körperwelten"
Eva Blome und Johanna A. Offe
Sehen und erkennen. Zum Blick, der (bestimmtes) Wissen schafft
Ursula Ganz-Blättler
Reflexionen auf Weiß. Zum geblendeten Wissen und seiner Darstellung
Jens E. Sennewald
Ungleiche Konkurrenzen. "Die Faszination des Echten" ästhetisch betrachtet
Ludwig Seyfarth
Auferstehungsmärkte: Zur Ökonomie von Körperteilen
Rebecca Pates
Wissenschaftsexperimente mit Leichen und die Ausstellung "Körperwelten": Aufklärung, Kunst und Totenrecht
Claudia Christina Jost
Der entwendete Tod. Wie sich Gunther von Hagens um den Ärger mit den Leichen windet
Iris Dressler
Militärische Blicke: Der ausgestellte Körper zwischen Schaulust und Erkenntniswunsch. Traditionen - Tendenzen - Fragestellungen
Thomas Ballhausen und Günter Krenn
"Trauerlose Würfelanatomie" als Gesellschaftsmodell. Der Verlust verschiedener Menschen und Leben in den "Körperwelten"
Liselotte Hermes da Fonseca
2006, 448 Seiten, ISBN-10: 3-89967-169-4, ISBN-13: 978-3-89967-169-8, Preis: 30,- Euro