In weiten Teilen der Psychologie wird die Subjektivität des Menschen abstrahierend ausgeklammert, um das Verhalten - nach dem Vorbild der Physik - objektiv erklären zu können. Die Subjektivität zu "rekonkretisieren" bedeutet, der Lebenswirklichkeit des Menschen nicht mehr auszuweichen. Ausgehend von dieser Vorstellung soll das Programm einer realitätsgerechten, an der Handlungswelt orientierten konkreten Psychologie entwickelt werden.
Die Unterscheidung zwischen einer abstrakten, vorwiegend laboratoriumsexperimentell orientierten und einer konkreten, lebensnahen Psychologie hatte bereits Carl Stumpf im Jahre 1907 vorgenommen. Er plädierte dafür, zunächst nur die erstere auszubauen. Historisch ist es so geworden, dass es bei dieser Empfehlung blieb und die wissenschaftliche Psychologie eine eher abstrakte Wirkung entfaltete. Diese unvollständige Psychologie bedarf der Ergänzung, um eine angemessenere Humanwissenschaft zu werden.
Mit dem vorliegenden Band soll dazu ein erster Schritt getan und der Umriss eines anschlussfähigen Programms aufgezeigt werden, das - im Sinne einer Gestaltungsanalyse - dem Aspekt der Intentionalität des Psychischen ebenso Rechnung trägt wie den Dimensionen der kulturgeschichtlichen Gewordenheit (Entstehungsanalyse) und des gesellschaftlichen Wandels (Veränderungsanalyse).
Inhalt:
I. Ziele und Perspektiven
Gerd Jüttemann:
Konkrete Psychologie als Anspruch und Programm
Wolfgang Mack:
Konkrete Psychologie: Alltägliche Lebensführung und Handlungswelt
Joachim Funke:
Psychologie ohne Grenzen: Von den Mosaiksteinen zur integralen Perspektive
Uwe Peter Kanning:
Zwölf Ansatzpunkte zur Förderung einer praxisbezogenen Psychologie
Gabriela Sewz:
Der Objektivitätsbegriff in der Psychologie: Auswirkungen auf Methodenvielfalt und Wirkungsmöglichkeiten der Psychologie
Werner Loh:
Psychologie in der Autogenese
Norbert Rath:
Vom Wandern in Seelenlandschaften
II. Ein naheliegender Begriff und seine Geschichte
Andreas Anrdt:
Wer denkt abstrakt? Konkrete Allgemeinheit bei Hegel
Ralf-Henning Lampe:
Gehört der Ton zur Geige oder zum Geiger? Oder: Wie konkret ist Politzers "Konkrete Psychologie"?
Carlos Kölbl:
Die Psychologie der kulturhistorischen Schule als konkrete Psychologie
Margret Kaiser-el-Safti:
Abstrakte und konkrete Psychologie - in wissenschaftshistorischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive
III. Wegbereiter einer anschlussfähigen Psychologie
Mark Galliker:
Kritik der abstrakten Psychologie. Mit Anmerkungen zur Dilthey-Ebbinghaus-Kontroverse
Hermann-Josef Fisseni:
Hans Thomae: Vertreter einer konkreten Persönlichkeitspsychologie
James T. Lamiell & Lothar Laux:
William Stern als Befürworter einer konkreten Psychologie: Von den Anfängen bis zum Lebensfilm
Burkhard Vollmers:
Konkretheit als Geschichtlichkeit - Klaus F. Riegel und das Desiderat einer diachronen Psychologie
IV. Allgemeine Reflexionen aus Forschung und Praxis
Gabi Reinmann:
Mögliche Wege der Erkenntnis in den Bildungswissenschaften
Georg W. Oesterdiekhoff:
Entwicklungspsychologie als Historische Anthropologie. Das Verhältnis von Sein und Bewusstsein in der Weltgeschichte
V. Exemplarische Felder
Stefan Stürmer:
Sozialer Wandel durch kollektives Handeln: Barrieren und Perspektiven für eine relevante Sozialpsychologie
Karl-Heinz Renner:
Selbstdarstellung und Performanz: abstrakte und konkrete Zugänge zum Menschen als Schauspieler
Katrin Rentzsch & Astrid Schütz:
Die Kombination idiographischer und nomothetischer Herangehensweisen an Projekte von besonderer Praxisnähe. Mehrebenenanalysen über den Zusammenhang von Persönlichkeit und Mobbing in Schulklassen
Heinrich Wottawa:
Möglichkeiten der wissenschaftlichen Psychologie zur Fundierung der Personalarbeit in der Wirtschaft
Anja Geßner & Lothar Laux:
Hitler und die Deutschen: Konkrete Psychologie am Beispiel einer Inhaltsanalyse von Tagebüchern aus der Zeit des Dritten Reichs
Harald Welzer:
Krisen und Routinen. Über einen aktuellen Anwendungsfall konkreter Psychologie
2010, 352 Seiten, ISBN 978-3-89967-492-7, Preis: 30,- Euro